Aktmodeln: Die befreiende Wirkung der Nacktheit
Von Charlott Friederich
Eliza lässt den dunkelgrauen Bademantel fallen. Mit dem Fuß schiebt sie ihn unter einen der hüfthohen Holztische. Lieber hätte sie ihren eigenen getragen, den seidenen mit den orientalischen Mustern und dem V-Ausschnitt. „Betont, aber nicht zu neckisch.“ Aber der ist zu Hause, daheim in Australien. Hier im Atelier der Uni Bamberg ist Eliza die Neue. Die, die sich freiwillig auszieht. Eliza ist Aktmodell und das aus Überzeugung. Wie die Leute auf sie und auf das, was sie macht, reagieren, weiß sie vorher nie. Doch dass sie immer noch nervös ist, wenn sie mit einer neuen Gruppe arbeitet, lässt sich die junge Frau nicht anmerken. Barfuß geht sie in die Mitte des hohen holzvertäfelten Raumes und kniet sich auf „die Liege“, ein flacher Holzklotz mit schäbigem Laken und dunkelroten Kissen. Eliza streckt ihr Hinterteil nach oben, wölbt ihren Rücken. Die hellbraunen Locken fallen vorne über, als sie ihren Kopf nach unten sinken lässt. „Der Bereich zwischen Nacken und Schulterblättern ist mit das Schönste zum Zeichnen“, erklärt sie später. „Darauf stehen sie.“
Eliza Blumer ist 22 und kommt aus der australischen Metropole Melbourne. Dort studiert sie im dritten Jahr Physiologie mit Schwerpunkt Fortpflanzung und Genetik. Einfacher gesagt: Eliza studiert die menschliche Sexualität. Was Sex mit uns macht, ob chemisch oder tief in unserem Inneren, fasziniert sie. Stundenlang kann sie darüber reden, ja fast predigen. Nach Deutschland kam sie wegen ihres Freundes Tom, den sie vor zwei Jahren bei einem Auslandsaufenthalt in Tschechien kennenlernte. Heute leben die beiden in Bamberg, einem ungewohnt kleinen Umfeld für einen Freigeist wie Eliza. Daheim in Melbourne steht die Studentin für erfahrene Künstler Modell. Aber auch vor Amateurzeichnern, Familienvätern und Geschäftsfrauen hat sie sich schon ausgezogen. Rund 40 Euro bekommt sie pro Sitzung, aber das Nacktsein ist für Eliza weit mehr als nur ein Nebenjob. Sie möchte Statements setzten, ihre Weiblichkeit offen ausleben, „ein Teil der Kunst sein“.
Mit Nackheit gegen die Essstörung
Mit Aktmodeln begann Eliza, um von ihrer Essstörung loszukommen. Es war ihr ganz persönlicher Weg aus dem gesellschaftlichen Magerwahn. Heute, ein Jahr später, will sie andere an ihrer Erfahrung teilhaben lassen, möchte gerade jungen Frauen helfen, sich in ihrem Körper wohl zu fühlen. Das „respektvolle Nacktsein“, wie sie es nennt, sei der wichtigste Schritt gewesen, um zu sich selbst zu finden. Heute — zehn Kilo schwerer, mit lockigen Haaren an Beinen und unter den Achseln, mit ungetuschten Wimpern und Nägeln ohne Lack — fühlt sich Eliza attraktiver und glücklicher denn je. „Ich möchte den Menschen zeigen, dass es nicht um die Erwartungen der anderen geht, sondern darum sich selbst zu lieben.“
Der Handy-Wecker klingelt. Weitere sieben Minuten sind um. Eliza wechselt die Pose. Sie legt sich ausgestreckt hin, die Arme über dem Kopf gekreuzt, die Beine leicht angewinkelt. Sie schließt die Augen, atmet tief aus und bleibt still wie eine Statue liegen. Neben Yann Tiersens leisem Klavierspiel und dem Kratzen der Kohlestifte auf Papier ist nichts zu hören, bevor der Wecker ein letztes Mal schellt. Hinter den Tischen beäugen die Kunststudentinnen nun kritisch ihre Werke. Und Eliza – immer noch barfuß und mit halboffenem Bademantel – ergreift ihre Chance und beginnt zu predigen: Über die befreiende Wirkung der Nacktheit, den Weg zu sich selbst, den Mut zur Weiblichkeit und über ihren Blog. Wenn sie davon spricht, leuchten ihre Augen.
Eine Plattform für sexuelle Phantasien
Auf ihrem Blog möchte Eliza eine Plattform schaffen, auf der Autoren ihre sexuellen Abenteuer, Wünsche und Phantasien miteinander teilen können. Anonym und ohne Bilder. „Ich selber komme aus einer konservativen und christlichen Familie“, erzählt sie. „Lange dachte ich, dass vorehelicher Sex, ob alleine oder mit dem Partner, etwas Schlechtes ist. Heute weiß ich, das ist falsch. Sex ist etwas ganz Natürliches, solange er auf Gegenseitigkeit beruht.“ Mit ihrem Blog möchte Eliza besonders junge Leute von den gephotoshopten Illusionen Adonis-ähnlicher Sexgötter und makelloser Liebhaberinnen abbringen. Dort gäbe es kein normal und abnormal, kein dick oder dünn, kein zu groß oder zu klein. Dort gäbe es nur Worte. „Worte, die befreien können.“
Der Kurs ist beendet. Die Studentinnen verstauen ihre Blöcke in den Rucksäcken. Eliza ist zufrieden: „Ich habe sie zum Nachdenken gebracht und das ist alles, was ich will.“