Nichts was uns passiert

„Nichts, was uns passiert“: Ein wichtiger Film über sexualisierte Gewalt

„Wenn du die Wahrheit auf eine Stimme reduzierst, ist sie falsch“

In Interviews mit der Podcasterin Kelly schildern Anna und Jonas abwechselnd ihre Sicht. Später kommen auch weitere Zeug*innen zu Wort: Freund*innen, Familie und Bekannte. Der Film „Nichts, was uns passiert“, der auf dem gleichnamigen Buch der Autorin Bettina Wilpert basiert, zeigt anhand unterschiedlicher Zeugenaussagen sehr umfassend, wie unsere Gesellschaft mit dem Thema Vergewaltigung umgeht. Bemerkenswert ist die dokumentarische Erzählweise, die es den Zuschauer*innen schwer macht, eine Seite einzunehmen. Ist Jonas wirklich davon ausgegangen, es sei einvernehmlich gewesen oder hat er ihr „Nein“ bewusst ignoriert?

Auch wenn die Ereignisse der besagten Nacht filmisch ausgeblendet wurden, will uns „Nichts, was uns passiert“ kein Rätsel aufgeben. Mit dem Satz „Wenn du die Wahrheit auf eine Stimme reduzierst, dann ist sie falsch“ wirft Anna in einem unverfänglichen Gespräch mit Jonas etwas in den Raum, das sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film zieht – und gewissermaßen als Botschaft angesehen werden kann. 

Allerdings lernt man Anna als einen authentischen und direkten Menschen kennen – Eigenschaften, mit denen Jonas offensichtlich nicht umgehen kann. Die Begegnungen der beiden sind oft von Anspannung geprägt. Dass sie schnell laut wird, widerspricht und viel trinkt, findet er vorlaut und provokant. In einem Interview mit Kelly gibt er zu, dass er damit nie klargekommen ist („Sie hat mich wahnsinnig gemacht!“). Seine klugen Sprüche über Gender-Fragen und Sexismus dienen auch lediglich dazu, sein Image als empathischer und „woker“ Student aufrechtzuerhalten. Aussagen wie „Ich will nicht solidarisch sein, ich will für mich sprechen“ oder „Ich hasse es, wenn ich während dem Sex fragen muss: Soll ich ein Kondom holen?“ lassen seine „woke“ Fassade bröckeln. 

Vergewaltigung hat viele Facetten

Der Film von Julia C. Kaiser zeigt: Vergewaltigung hat viele Facetten. In Anna muss erst die Überzeugung reifen, dass sie Opfer sexueller Nötigung geworden ist. Nach der besagten Nacht sucht sie im Internet nach „Ich bin vergewaltigt worden“ – und stellt dabei fest, dass sich Vergewaltigung anders anfühlt, als es ihr von der Gesellschaft vorerzählt wurde. Als Annas Schwester Daria Anna klarmachen will, dass sie ein Opfer sexueller Nötigung ist, wird sie wütend. Sie will „keines dieser MeToo-Opfer“ sein. Die Erfahrungen, die Anna in jener Nacht gemacht hat, gehören für sie nicht zu einem typischen Vergewaltigungsszenario.

Der Film bricht mit dem klassischen Schwarz-Weiß-Denken, das in unserer Gesellschaft in Bezug auf sexuelle Nötigung existiert: Nicht nur Fremde, sondern auch Bekannte könnten dazu fähig sein. Der ARD-Film widerspricht damit dem Vorurteil, dass Vergewaltigungen zwangsläufig in dunklen Gassen stattfinden und immer von Fremden ausgehen. Stattdessen nimmt sich der Film alle Stereotype vor und arbeitet mit Protagonist*innen, die in einem vermeintlich liberalen und empathischen universitären Umfeld leben.