Liebe Oma, ich wünsche dir, dass du loslassen kannst
„Wen magst du lieber, deinen Mama oder deinen Papa?“ Ich stehe, zwischen verstreuten Kuscheltieren und Kinderbüchern, in eurem Wohnzimmer. Ich kann weder lesen noch schreiben, aber mir ist damals schon bewusst, dass es auf diese Frage keine richtige Antwort geben kann. Ich strenge meinen Kopf auf der Suche nach der größtmöglichen Diplomatie so sehr an, dass er mir hinterher wehtut. Du kniest mir gegenüber und blickst mich erwartungsvoll an. Ich zögere kurz, bevor ich dir zwischen zusammengepressten Lippen direkt ins Gesicht lüge: „Ich hab‘ beide gleich lieb.“ Ich weiß, dass du hören willst, dass ich deinen Sohn lieber mag. Aber das entspricht ebenso wenig der Wahrheit wie meine eben gegebene Antwort. Die Beziehung zu meiner Mama ist bis heute deutlich enger, als die zu meinem Papa. Um also niemanden zu verletzen wiederhole ich diesen Satz mantraartig – denn du fragst mich immer, wenn du auf mich aufpasst. Es ist eine der wenigen Erinnerungen an meine früheste Kindheit, die bis heute lebendig ist.
Das undefinierbare Zwischen-Uns
Nun liegst du im Bett – wie mittlerweile eigentlich immer. Ich setze mich vorsichtig neben dich, du begrüßt mich mit den Worten: „Ich bin so krank.“ Ja, das bist du. Du hast seit meinem letzten Besuch wieder abgenommen. Opa meint, dass du heute nicht so gut drauf bist und direkt nach dem Kaffee morgens zurück ins Schlafzimmer wolltest. Ohne Opa müsstest du längst im Heim leben. Wir alle sind sehr dankbar und froh, dass er sich so rührend um dich kümmert. Ich hätte das nie von ihm gedacht, konnte man ihm gefühlsmäßig doch Zeit seines Lebens eher das Attribut „ruppig“ zuschreiben. Wenn ich jetzt beobachte, wie er dir zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht, um deine Hörgeräte zu überprüfen, wie er dir das Mittagessen in mundgerechte Stücke schneidet und dir beim An- und Ausziehen hilft, dann muss ich wirklich an mich halten, damit sich keine Träne aus meinem Augenwinkel löst. Liebe Oma, es fällt mir nicht leicht, dich so zu sehen. Deine körperlichen Kräfte lassen langsam nach, doch gleichzeitig glaube ich, dass dich innerlich etwas umtreibt. Es ist, als könntest du nicht loslassen. Dabei wäre das dein größter Wunsch. Während ich mich im Spiegel deines Schlafzimmers beobachte, wie ich da so sitze, dich im Arm, werde ich traurig. Ich bin traurig, weil ich dir nicht so nah sein kann, wie ich es gerne sein möchte. Zwischen uns gab es immer eine emotionale Distanz, die ich leider nicht einfach in Luft auflösen kann, obwohl ich definitiv auch viele schöne Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit habe.
In guten und in schlechten Zeiten
Du legst deinen Kopf in meinen Schoß und ich streiche dir vorsichtig über den Rücken. Das hast du früher auch immer bei uns Enkelkindern gemacht – und wir haben es geliebt. Am liebsten mochte ich, wenn du mir dabei von deiner Vergangenheit erzählt hast. Im Jugendalter wurdest du mit deiner kompletten Familie aus der ehemaligen Tschechoslowakei vertrieben und musstest deine Heimat verlassen. Ein Schicksal, das dich nachhaltig geprägt hat. Ich kenne dich nur mit dieser Aura der Schwermut, die dich umgibt, wie ein unsichtbarer Schleier. Umso schöner die Momente, die wir sorgenfrei miteinander teilen konnten. Eure Besuche mit dem Fahrrad, deine verzweifelten Versuche unseren Garten in eine grüne Oase zu verwandeln oder der Tag, an dem wir ein Holzhaus für unsere Meerschweinchen gebaut haben. Ich habe das Alles sehr genossen und werde diese Momente auch für immer in Erinnerung behalten. Liebe Oma, ich bin traurig, dass etwas zwischen uns steht. Aber ich habe so manches einfach nicht verstanden und leider auch den Zeitpunkt verpasst, dich nach dem Warum zu fragen. Warum habe ich weniger Taschengeld bekommen als meine Geschwister, als ich die mittlere Reife machte und sie das Gymnasium besuchten? Warum hast du uns schon als Kinder oft nach bloßen Äußerlichkeiten bewertet? Und warum nur wolltest du immer hören, dass wir unseren Papa lieber haben? Ich weiß darauf heute keine Antworten, aber das ist in Ordnung. Liebe Oma, ich schreibe diese Zeilen, weil ich meinen Frieden machen möchte. Ich bin überhaupt nicht böse auf dich, denn du hattest mich trotzdem immer lieb – auf deine Weise. Das weiß ich und auch du weißt es. Ich wünsche mir, dass ich dich noch ein paarmal besuchen kann und wünsche dir, dass du loslassen kannst, wenn für dich der richtige Zeitpunkt ist.
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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz