„Du bist so reif für dein Alter!“ – Wie Parentifizierung idealisiert wird
Den obigen Satz mag manch eine*r sicherlich schon einmal gehört haben. Als Kompliment gedacht, wird die Aussage meistens auch als solches aufgefasst. Dabei wird jedoch selten hinterfragt, ob mentale Reife überhaupt ein Indikator für eine positive Entwicklung ist.
Im Alleingang
Besonders reif und erwachsen wirkende Menschen können durch ihr oftmals autoritäres Auftreten und eine eindrucksvolle Wortwahl auffallen. Vor allem ist es aber die ungewöhnlich hohe Selbstständigkeit, die sie bereits in jungen Jahren an den Tag legen. Hinzukommt eine ausgeprägte Verantwortungsbereitschaft. Jene Menschen erkennen oft früh, dass sie sich mit ihrer Altersgruppe nicht so recht identifizieren können. Denn unter Gleichaltrigen verkörpern sie überwiegend den*die Ratdudgeber*in. Gleichsam bewegen sie sich häufig in älteren Freundeskreisen, da sie sich dort besser verstanden fühlen als in Gegenwart ihrer gleichaltrigen Freund*innen.
Eine Person, die ihrem Alter auf mentaler Ebene voraus zu sein scheint, muss nicht unbedingt viele schlechte Erfahrungen während ihrer Kindheit gemacht haben. Es ist folglich nicht direkt von tiefgreifenden Gründen auszugehen. Allerdings verbirgt sich hinter einer „alten Seele“ nicht selten ein Phänomen, das Menschen meist von klein auf und ihr Leben lang prägen kann: die Parentifizierung.
Adaptive Parentifizierung
Sie unterteilt sich zunächst in adaptive und destruktive Parentifizierung. Erstere beschreibt die Übernahme und Bewältigung von Aufgaben, die die Entwicklung eines Kindes positiv beeinflussen können. Es soll demnach stets gefordert, aber nicht überfordert werden. Auf diese Weise wird dem Kind ermöglicht, verantwortungsvolles und empathisches Handeln zu erlernen.
Destruktive Parentifizierung
Die destruktive Parentifizierung hingegen bezeichnet die Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind. Dabei nimmt das Kind in überzogenem Maße die Position der Erziehungsberechtigten ein, wodurch die Generationsgrenzen im Familiengefüge verschwimmen.
Es muss also schneller erwachsen werden und seine kindlichen Bedürfnisse zurückstellen, um die Elternrolle übernehmen zu können. Meistens führt diese Art der Parentifizierung letztlich dazu, dass ein Kind auch später nach außen hin kompetenter wirkt als andere in seinem Alter, obwohl es innerlich unter immenser Überlastung leidet.
Jene Überforderung erfährt das Kind, indem es beispielsweise Großteile der Haushaltsführung erledigen muss oder überwiegend für die Betreuung der jüngeren Geschwister zuständig ist. In den meisten Fällen manifestiert sich die destruktive Parentifizierung jedoch auf emotionaler Ebene: Wenn Kinder in Streitigkeiten der Eltern hineingezogen werden und sie dadurch in einen Zwiespalt zwischen beiden Parteien geraten. Zudem erfolgt eine Parentifizierung, sobald das Kind eine emotionale Stütze für seine Elternteile darstellt, sie also oft trösten und verstehen muss.