„Mama, du hast den lieber als mich“: Haben Eltern ein Lieblingskind?

Ein Lieblingskind? – Nein, das habe ich nicht. Kaum eine Mutter oder ein Vater gibt offen zu, ein Lieblingskind zu haben. Doch in vielen Familien gehört Bevorzugung zum Alltag. Das kann Folgen haben – selbst für das Lieblingskind.

Die Frage, ob es im Elternhaus ein Lieblingskind gab, entfacht oft eine rege Diskussion. Eltern reagieren auf die Frage mit Empörung, beschämtem Rumgedruckse oder einem klaren „Nein, ich habe alle gleich lieb.“ Aber stimmt das? Studien zeigen: In den meisten Familien gibt es ein Lieblingskind. Aber die Bevorzugung ist so subtil, dass sich viele Mütter und Väter dessen gar nicht bewusst sind. Und gesprochen wird darüber sowieso nicht. Ein Lieblingskind zu haben, ist tabu. Es soll gerecht zugehen, kein Kind darf bevorzugt oder benachteiligt werden, schließlich hat jedes Kind dieselbe Liebe verdient.

Tabuthema Lieblingskind

Der Begriff „Lieblingskind“ sei angemessen, wenn ein Elternteil über Jahre hinweg eines der Kinder bevorzugt behandelt, sagt Psychologe Jürg Frick. Lieblingskinder erfahren mehr Aufmerksamkeit, Wärme und Nähe. Oder weniger Kontrolle und Maßregelungen. Wie viele Eltern tatsächlich eine solche Unterscheidung machen, ist schwer zu sagen. Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Soziologin Jill Suitor schätzt, dass in etwa zwei Drittel aller Familien die Eltern eines der Kinder bevorzugen. Eine zeitweilige Bevorzugung hat in der Regel keine gravierenden Folgen. Die Ungleichbehandlung kann aber auch massiver sein. Familienforscher Hartmut Kasten vermutet, dass eine permanente Bevorzugung eines Kindes noch in rund einem Fünftel der Familien vorkommt.

Darum wird ein Kind zum Lieblingskind

Die Motive, aus denen Eltern ein Kind bevorzugen, sind unterschiedlich. Ähnlichkeiten zum eigenen Charakter und gemeinsame Interessen können zu einer stärkeren Bindung führen. Genauso können sie sich zum Kind hingezogen fühlen, wenn es ganz anders ist als sie selbst. In der Regel ist das Lieblingskind einfacher zu erziehen. „Das Sonnenkind erfüllt häufiger die Erwartungen und Wünsche der Eltern, das benachteiligte entspricht weniger der familiären Norm“, sagt Pädagogin Martina Stotz, die über das Thema promoviert hat. Manche Kinder triggern mit ihren Verhaltensweisen einen Elternteil besonders. Oft seien das Kinder, die zu Gefühlsausbrüchen neigen und einen starken, autonomen Charakter haben, so Stotz. Manchmal fühlen sich Eltern auch dem Kind besonders nah, das mehr Sorgen bereitet, unter einer Krankheit leidet und mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung benötigt.

Neben der Persönlichkeitsstruktur können Stress, psychische Krankheiten, Überforderung und Erlebnisse aus der eigenen Kindheit dazu führen, dass Mütter und Väter ihre Kinder ungleich behandeln. „Meistens hat die Bevorzugung eines Kindes vielmehr mit der Geschichte der Eltern zu tun als mit der des Kindes“, sagt Stotz. Vielleicht hat die Mutter eine Abneigung gegen den Sohn, der die jüngere Schwester piesackt, weil sie selbst als Kind von ihrem größeren Bruder unterdrückt wurde. Eltern projizieren häufig unverarbeitete Konflikte auf ihre Kinder, meistens unbewusst. „Es ist wichtig, mit den möglicherweise wiederkehrenden starken Gefühlen bezüglich eines Kindes offen und selbstkritisch umzugehen“, sagt Sozialpsychologin Sarah Trentzsch.