Elena hat sich das Laufen wieder selbst beigebracht

Reportage: Elena, das Stehaufmännchen

„We keep this love in a photograph. We made these memories for ourselves“

Elena lag in ihrem Zimmer und hörte den ganzen Tag Photograph von Ed Sheeran. Sie schaute sich Bilder ihrer Jahrgangsstufe an: Von Klassenfahrten und Geburtstagsfeiern. In wenigen Wochen fand die Studienfahrt nach Sorrent statt. In einem Jahr das Abitur und der Ball. Und sie würde nicht dabei sein.

„Elenas Verhalten war einfach krass. Krass und tapfer. Nicht jeder hätte diese ganzen Rückschläge so gut verkraften können. Und sie hat sich nie beschwert“, sagt Lisa. „Meine Freunde waren mein Glück“, meint Elena. „Sie haben mir unglaublich viel Kraft gegeben. Und ich habe gemerkt, wer ein wahrer Freund ist und wer nicht.“ Auf einem Schulausflug gab es keine Rampe für Elenas Rollstuhl. Ihre Lehrerin bat deshalb einen Jungen aus ihrer Klasse, sie und ihren Rollstuhl auf eine Stufe zu haben. „Was habe ich denn jetzt damit zu tun?“, fragte der nur genervt und ging weiter – ohne zu helfen. „Viele haben mir auch einfach nicht geglaubt“, sagt Elena. Sie klingt traurig. „Sie dachten, ich übertreibe und habe keine Schmerzen. Und werde jetzt von allen Lehrern grundlos bevorzugt.“

„Elena Feldmann“, tönt eine helle Stimme durch den Lautsprecher der Arztpraxis. Nach fast zwei Stunden ist sie endlich an der Reihe. Draußen dämmert es, die Praxis ist jetzt fast leer. Elena setzt sich auf den Stuhl im Behandlungszimmer und legt eine große rote Tüte auf den Schreibtisch. Darin befinden sich Röntgenbilder, Arztbriefe und Befunde. „Na? Wie geht’s?“, fragt ihr Arzt Dr. Mayer und strahlt sie an. „Der Gang ist doch schon etwas sicherer geworden, oder nicht?“, fügt er hinzu und sieht sie prüfend an. Sie nickt. „Sicherer schon. Aber ich kann mich trotzdem nicht so bewegen wie andere Leute in meinem Alter“, antwortet sie resigniert. Davon spricht sie oft: Dinge nicht machen zu können, die anderen tun. Eingeschränkt sein. „Da ist so ein Knacksen“, sagt sie. Dr. Mayer hebt die Augenbraue und bittet sie auf die Liege. Langsam tastet er sie ab und hebt das Bein. Dann setzt er sich zurück hinter seinen Schreibtisch und kratzt sich am Kopf. „Keine Auffälligkeiten. Das muss man einfach weiter beobachten“, sagt er. „Er ist einer der wenigen, der immerhin zugibt, dass er keine Ahnung hat“, sagt Elena und lacht. „Und er erinnert mich an einen Teddy. Großer Pluspunkt.“ Elena mustert die rote Tüte, zögert kurz und fragt dann: „Gibt es irgendeine Möglichkeit, eine Kur verschrieben zu bekommen?“ Dr. Mayer schüttelt langsam den Kopf und sieht Elena mitleidig an. „Schwierig. So ganz ohne Befunde.“ Damit hat Elena gerechnet. Sie seufzt.

„Die Schuhe standen auf meinem Nachttisch – als Motivation“

„Ich gehe nur noch selten zu Ärzten“, sagt Elena. „Es bringt nichts.“ Trotzdem will sie weiterkämpfen. So wie sie es bisher auch getan hat. Elena zwang sich zu Laufen, ihr Gang wurde immer sicherer. „Mein erstes großes Ziel war es, an meinem 18. Geburtstag auf hohen Schuhen stehen zu können. Ich übte jeden Tag mit einer Gehhilfe. Die Schuhe standen auf meinem Nachttisch – als Motivation.“ Elena ging in die Schule, machte ihren Führerschein, gewöhnte sich an den Schmerz. In zwei Monaten schreibt sie ihr Abitur. Um nicht zu lange sitzen zu müssen, wird sie einen Stehtisch bekommen.

Ob es jemals wieder normal sein wird, weiß Elena nicht. „Meine größte Angst ist es, niemals wieder schmerzfrei zu sein.“ Trotzdem will Elena nach dem Abitur arbeiten und studieren. Das tun, was alle anderen auch machen. Sie lässt sich nicht einschränken: Denn sie ist ein Stehaufmännchen. Und wer weiß, vielleicht wird sie irgendwann wieder Pirouetten auf dem Eis drehen.

Der Text wurde 2019 geschrieben. Mittlerweile studiert Elena tatsächlich Jura. Eine Ursache für ihren Schmerz wurde bis heute nicht gefunden. Er ist leichter geworden, ganz weg ist er jedoch nicht. Elena hat gelernt damit zu leben.

* Namen wurden geändert.

Mehr zum Thema:

Folge ZEITjUNG auf FacebookTwitter und Instagram!

Bildquelle: Anna Shvets auf Pexels; CC0-Lizenz