aufstehen

Selbstversuch: Macht es mich zufriedener, eine Stunde früher aufzustehen?

„Miracle Morning“ – ein wunderbarer Morgen wird mir versprochen. Für viele sind das zwei gegensätzliche Begriffe, die niemals in einem Satz stattfinden. Für viele ist der Snooze-Button der größte Freund am Morgen und nicht etwa die Yogamatte oder das Tagebuch. Aber genau diese Dinge sollte man auspacken, wenn man morgens eine Stunde früher aufsteht. Denn darum geht es beim „Miracle Morning“, den der amerikanische Autor Hal Elrod im gleichnamigen Buch zum Trend gemacht hat.

Na klar, der nächste Trend. Die nächste Selbstkasteiung.Erst heißt es, wir sollten für ausreichend Schlaf sorgen und jetzt wird er uns genommen.Wer keinen Bock mehr hat, Trends zu folgen, für den ist jetzt vermutlich die beste Möglichkeit, auszusteigen. Denn wer opfert freiwillig eine wertvolle Stunde Schlaf? Das ist doch nur eine weitere Erfindung der Leistungsgesellschaft. Wir wollen noch mehr Vorsprung. Also nutzen wir jetzt die Minuten, in denen andere noch von Einhörnern oder vermasselten Abi-Prüfungen träumen, um noch mehr Produktivität in unsere 24 Stunden zu quetschen, um noch mehr Geld zu scheffeln. Und irgendwann schlafen wir gar nicht mehr.

Viel zu wenig Zeit für uns selbst

An alle, die mir jetzt gerade nickend zustimmen: Erwischt. Da habe ich gerade die beste Ausrede für alle Snooze-Drücker geliefert. Damit lässt es sich so schön rechtfertigen, dass eine Stunde früher Aufstehen wirklich absolut keine gute Idee ist. Hab ich auch versucht. Aber ich musste verstehen: „Miracle Morning“ hat weder etwas mit Selbstkasteiung noch mit mehr Produktivität zu tun. Im Gegenteil, es geht darum, sich mehr Zeit für sich zu nehmen, bevor eben jener leistungsgeprägte Alltag beginnt und uns in seine Abgründe zieht.

Wir müssen nur einmal ehrlich zu uns selbst sein. All das, von dem wir gehört haben, dass es gut für uns ist, stopfen wir in die letzten Stunden unseres Tages. Etwas wie Klavierspielen, Yoga machen, Meditieren oder Lesen. Wir wollen uns ja so gerne Zeit für uns nehmen. Aber die einzigen freien Minuten, die wir am Tag haben, rutschen irgendwie immer auf den Abend. Und genau da kommt dann doch immer etwas dazwischen. Wir sind zu müde, Freunde warten in der Bar auf uns oder der Wäscheberg lässt uns nicht mehr in unser Zimmer, sodass ihm der Weg in die Waschmaschine gezeigt werden muss. Eine realistische Berechnung der Minuten, die wir uns um uns selbst gekümmert haben – und dazu zählen Netflix und Instagram wirklich nicht -, fällt demnach eher enttäuschend aus.

Das Konzept von Hal Elrod ist also, sich morgens die Zeit für sich zu nehmen. Morgens dreht sich die Welt langsamer als zu jeder anderen Tageszeit. Also haben auch wir die Zeit. Es ist ruhig, sowohl draußen als auch auf dem Display unseres Smartphones. Da wollen die Freunde oder der Partner sicher noch nichts von einem. Natürlich trifft das mit der Ruhe nicht zu, wenn man anstatt um 12 jetzt um 11 Uhr vormittags aufsteht. Aber eine Stunde mehr kann immer etwas bewirken. Diese Stunde ist wie ein kleines, tägliches Geschenk an uns selbst. Und da ich von Geschenken sehr viel halte, will ich es ausprobieren.

Wofür mache ich das nochmal?

Auch wenn ich schon immer zur morgenaktiven Sorte gehöre, die beim ersten Weckerklingeln aufsteht und mit dem klassischen Schul- und Arbeitsrhythmus à la „9 to 5“ gut klarkommt, habe ich Respekt davor, tatsächlich eine Stunde früher aufzustehen. Für mich bedeutet das konkret, dass mein Handy ab jetzt für 7 Tage um 6.30 Uhr vibriert. Am Abend vor meinem ersten Tag bin ich gespannt.

Und am Morgen dann unendlich müde. So werden aus 60 nur 45 Minuten. Da ich es nicht wirklich aus dem Bett schaffe, bleibe ich erst einmal gemütlich liegen und schnappe mir das Buch, das seit Wochen traurig und ungeöffnet neben meinem Kopfkissen liegt. Ich habe mir vorgenommen, Yoga zu machen, zu meditieren, zu lesen und/oder zu schreiben. Das Handy bleibt dabei auf Flugmodus, damit auch die Ablenkung gar keine Chance hat. Im Buch „Miracle Morning“ sind zwar 6 Aktivitäten vorgegeben, aber ich will mein eigenes Programm machen. Eben genau das, wozu ich abends nicht komme. Nach ein paar gelesenen Seiten stehe ich auf und setze mich auf meine Yogamatte, um zu meditieren. Keine ganz so gute Idee, denn dabei schlafe ich fast ein. Anstatt der ruhigen Stimme, die mich anleitet, bräuchte ich an diesem Morgen wohl eher eine furchtbar grelle Trillerpfeife.

Wofür mache ich das nochmal? Mein Gehirn ist mal wieder schlauer als ich. Es möchte so sehr, dass ich in meiner Komfortzone bleibe, dass es mir sofort einredet, dass es sich nicht lohnt. Doch ich habe mir mein Ziel in weiser Voraussicht notiert: das Beste aus meinem Tag machen und Zeit für mich nehmen, um ausgelassener und entspannter zu sein. Ja, das klingt nach Optimierungswahn. Aber auch nach Veränderung und Weiterentwicklung und damit auf alle Fälle ein Experiment wert. Und wenn es mich zufriedener macht, ist es doch jede Optimierung wert.

Wie geht es mir eigentlich?

Im Laufe der Woche mache ich aus den 60 irgendwann 30 Minuten. Die reichen, um Yoga zu machen oder ausgiebig zu meditieren oder ein paar Seiten zu schreiben. Es geht mir gar nicht darum, irgendwelchen Regeln zu folgen, sondern das zu machen, was sich für mich am besten anfühlt. Ich mache tatsächlich dreimal Yoga. Und bin selbst von mir überrascht. Sonst war ich stolz, wenn ich es einmal in der Woche in den herabschauenden Hund geschafft habe. Mit Sicherheit trägt auch der Gedanke, morgens schon etwas geschafft zu haben, dazu bei, dass es mir an diesen Tagen super geht. Und auch, dass ich Zeit hatte, mir alle möglichen Gedanken zu machen. Aber eben nicht zu anstehenden Terminen oder To-Dos, die mich sonst schon, bevor der Tag überhaupt begonnen hat, stressen. Sondern zu mir selbst. Wie geht es mir eigentlich? Was beschäftigt mich gerade? Wofür bin ich dankbar? Wo will ich hin? Denn wenn wir ehrlich sind, fragen wir uns das ziemlich selten. Obwohl es uns dabei hilft, wieder einen Fokus zu finden.

An den meisten Tagen sitze ich gut gelaunt um halb 10 auf der Arbeit. Einmal kriege ich es nicht hin. Der Abend vorher war zu lange und zu bierlastig. Da bin ich froh, dass ich überhaupt irgendwie aus dem Bett komme. Natürlich fehlt eine Stunde Schlaf, wenn man dafür abends nicht früher ins Bett geht. Das macht sich auch ein paar Mal gegen Spätnachmittag dann bemerkbar. Und das könnte mich nerven. Aber es geht doch darum, dass es uns besser geht und nicht darum, ganz strikt Regeln einzuhalten.

Mache ich weiter?

Ich bin auf jeden Fall der Meinung: Ausprobieren lohnt sich. Ob es nun 60 Minuten sein müssen, oder ob auch 10 Minuten in Ruhe vor dem Fenster Stehen und gemütlich Kaffee Trinken ausreichen, muss dann jeder selbst entscheiden. Und auch, was man machen will. Alleine das Gefühl, die Zeit, die wir haben, besser zu nutzen, macht schon gute Laune.

Ich bin vielleicht nicht die Konsequenteste und treuste Anhängerin dieses Trends, wenn ich mir Ausnahmen gönne, mein eigenes Programm durchziehe und mir eine Stunde zu viel ist. Doch dafür merke ich schnell, dass ich es mag, mich morgens um nichts anders als mich selbst zu kümmern. Der Morgen ist dafür da, egoistisch zu sein. Und das tut mir echt gut.

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz