Stellungswechsel Jungfrau

Stellungswechsel: Jungfrau zu sein ist weder sonderlich erstrebenswert noch peinlich

Sex und Feminismus, das passt nicht zusammen? Doch, wie unsere Kolumne „Stellungswechsel“ beweist. Nadine Kroll befasst sich mit den Fragen, die junge Menschen und speziell Frauen, die gerade ihre Sexualität entdecken, ganz besonders beschäftigen. Es geht um gesellschaftlichen Wandel, Selbstbestimmtheit, neugewonnene Freiheiten, Frauenrechte und natürlich ums Ficken, kurz: um sexpositiven Feminismus und darum, dass sich niemand für seinen Körper oder seine Vorlieben schämen muss.

Es muss ungefähr in der zweiten oder dritten Klasse gewesen sein, dass der freche Typ, der hinter mir saß und mich sowieso ständig ärgerte mich mitten im eher mäßig interessanten Mathematikunterricht antippte und lachend fragte: „Nadine, bist du noch Jungfrau?“

Ich konnte nicht mehr tun als genervt die Augen zu verdrehen und zu antworten: „Nee, Fische.“ Er und sein Nachbar kriegten sich daraufhin absolut nicht mehr ein vor Lachen – einer der beiden wurde von unserer Lehrerin sogar vor die Tür geschickt – und ich verstand erst vier Jahre später, was an der Frage und meiner zugegebenermaßen naiven, wenn auch ehrlichen Antwort so komisch gewesen war.

Schulgespräche

Jungfräulichkeit war eines der Gesprächsthemen während der Mittelstufe, und in erster Linie ging es für die Jungen darum, sie schnellstmöglich zu verlieren, während die Mädchen von ihren Eltern, Biologie- und Religionslehrern dazu angeleitet wurden, eben jene Jungfräulichkeit so lange es nur irgend geht zu behalten. Am besten natürlich bis zur Ehe – auch wenn uns natürlich bereits damals klar war, dass die wenigsten von uns Mädchen das tatsächlich schaffen würden, während es für einige Jungs eher schwierig werden dürfte, nicht als Jungfrau zu sterben.

Wie sexistisch und einfach grundlegend falsch diese Ansichten sind, wussten wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Woher auch? Alles, was wir bisher vermittelt bekommen hatten war, dass früh Sex haben für Jungen gut, für Mädchen allerdings eher schlecht ist. Ach ja, und dass Sex immer einen Penis und eine Vagina beinhaltet.

Dementsprechend konnte man seine Jungfräulichkeit also nur verlieren, wenn ein Penis in eine Vagina gesteckt wurde. Laut dieser Definition wären einige meiner Freundinnen wohl mit 70 Jahren noch Jungfrau – selbst wenn sie in der Zwischenzeit natürlich mit unzähligen Frauen im Bett waren. Das ist natürlich vollkommener Quatsch, und deshalb kann man – denke ich – guten Gewissens sagen, dass die weit verbreitete Ansicht, was Jungfräulichkeit ist, einfach nicht mehr zeitgemäß ist – sofern sie das überhaupt jemals war.

Gerüchteküche

Während ich die Oberstufe besuchte und mein Abitur machte, kursierte ein Gerücht über ein Mädchen aus meinem Jahrgang, das von ihren Eltern sehr streng katholisch erzogen wurde und als Jungfrau in die Ehe gehen sollte. Aus diesem Grund, so erzählte man sich, hatten ihr Freund und sie also nur Analsex. So konnten sie gemeinsam Spaß haben und ein befriedigendes Sexleben genießen, und trotzdem würde sie als Jungfrau vor den Traualtar treten. Ob an dieser Geschichte wirklich etwas dran ist, kann ich bis heute nicht mit absoluter Sicherheit sagen – obwohl ich von diesem mehr als seltsamen Gedankengang seither schon häufiger gehört habe.

Schubladendenken

Entstehen tut er – genau wie so viele andere Gedankengänge rund um das Thema Sexualität – aus einem falschen Verständnis von Jungfräulichkeit und deren angeblichem Wert heraus. Jungfrau zu sein ist weder sonderlich erstrebenswert noch irgendwie peinlich, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein soziales Konstrukt, das Menschen, die Sex haben (oder eben auch nicht) in „gut“ oder „schlecht“, in „Held“ oder „Versager“, in „Dame“ oder „Schlampe“ kurz: in zwei unterschiedliche Kategorien einteilt, denen jeweils eine starke emotionale und damit auch soziale Wertung zugemessen wird.

Während Mädchen, die Sex haben, eher in die Kategorie „Schlampe“ gesteckt werden, gelten Jungs, die sexuelle Erfahrungen sammeln, allgemein eher als Held. Daher kommt vermutlich auch die Ansicht, dass es für einen Teil der Bevölkerung erstrebenswert ist, die sogenannte Jungfräulichkeit zu behalten, während es den anderen Teil der Bevölkerung zum Loser macht, wenn er bis zu einem gewissen Alter noch nicht richtig geknattert hat.