Warum „nett“ nicht der kleine Bruder von Scheiße ist

Ein unsanfter Hieb im Vorbeigehen, ein mieser Kommentar von der Seite. Ganz normaler Alltag – gefühlt leben viele Menschen in einer Rush-Hour. Sie sprinten zur U-Bahn, erledigen tausend Dinge gleichzeitig und finden kaum eine Minute zum Durchatmen. Abgesehen davon, dass das ganz schön stressig ist, verschwindet dadurch auch immer mehr respektvolles, aufmerksames – sprich freundliches Verhalten. Wir sprachen mit der Sozialwissenschaftlerin Luise Heinz der Uni Hamburg über die gute alte Freundlichkeit.

Nett sein macht glücklich

Letztens in der U-Bahn stieg ein älterer Mann ein. Er blickte sich um und ich vermutete, er sucht einen Sitzplatz. Natürlich – wie jeden Morgen – war die U-Bahn komplett voll. Mein Blick wanderte im Raum herum. Die anderen Leute starrten in ihr Handy – oder ignorierten die Situation absichtlich. Wer wollte schon stehen?! Meine Mitgefühls-Glocken bimmelten: Sofort bot ich dem Mann meinen Sitzplatz an. Doch der Opi winkte dankend ab, grinste und zeigte mir den Daumen nach oben. Als er ausstieg winkte er mir zum Abschied lächelnd zu. Es machte mich verdammt glücklich, dass er sich über mein Angebot so gefreut hat. Warum ich das erzähle? Diese Situation zeigte mir an diesem Morgen so deutlich, wie wichtig es ist, freundlich zu sein. Aus seiner Comfort-Zone herauszuschreiten und mit offenen, lächelnden Herzen auf Menschen zuzugehen. Wer zum Beispiel ein Lächeln verschenkt, bekommt meist auch „good vibes“ zurück. Ein Pingpong-Spiel, bei dem sich beide Seiten besser fühlen.

Für jeden bedeutet freundlich sein etwas anderes

Ein Lächeln, ein Kompliment – Für den einen mag es ein Akt der Freundlichkeit gewesen sein, für den anderen unangemessen oder gar unerhört. „Für Freundlichkeit gibt es keine universellen Regeln. Man muss sie lernen und vor allem auch verstehen, dass die eigenen Maßstäbe nicht unbedingt die des Anderen sind. Man könnte sagen, darin liegt der Kern der Freundlichkeit: Sich auf das Gegenüber einstellen, genau beobachten, sich zurücknehmen, auch wenn man andere Erwartungen haben mag“, sagt die Sozialwissenschaftlerin auf die Frage, was Freundlichkeit bedeutet.

Freundlichkeit kann man lernen

Aber ist Freundlichkeit auch jedermanns Sache? Dem einen oder anderen fällt Nettigkeit vielleicht auch einfach etwas schwerer. „Nach der Soziologie ist das Verhalten in den Körper „eingeschrieben“ und bestimmt sogar die kleinsten Gesten. Zwar ist es schwer über den eigenen Sozialisations-Schatten zu springen, allerdings ist es möglich: Durch die genaue Beobachtung von anderen und sich selbst lassen sich die Regeln der Freundlichkeit erlernen oder umlernen“, erklärt Frau Heinz.

Nettigkeit ist kulturell bedingt

Und tatsächlich gibt es Situationen – man kann noch so freundlich „veranlagt“ sein, wie man will – da kommen einem die netten Worte schwerer als sonst über die Lippen. Klar, man muss nicht immer alles über sich ergehen lassen. Entschließen wir uns trotzdem zu einer netten Reaktion, obwohl sie „fake“ ist – wirkt diese Art der Freundlichkeit dann anders als die von Herzen kommende? „Auch hier spielen kulturelle Unterschiede eine große Rolle in dem, was wir als angemessen und echt empfinden. Was wir als aufrichtig empfinden unterliegt einer Interpretations-Schablone, die uns zur Verfügung steht, weil wir sie von Kindheit an trainiert haben“, weiß Frau Heinz.

Übrigens: „Wenn wir jemanden anlächeln, dann vermitteln wir die Message: Wir verstehen die Situation hier gleich – wir haben eine Basis. Ob das wirklich so ist, ist eigentlich nicht wichtig – wenn alle mitspielen.“

Fakt ist: Nette Worte und Taten verschönern nicht nur einem selbst, sondern auch den Mitmenschen den Alltag – und meistens bekommt man mehr zurück, als man denkt.

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Bildquelle: Unsplash; CCO-Lizenz