Menschen mit Afantasie sind auf dem inneren Auge blind

Afantasie: Wenn das innere Auge blind ist

Ob das Gesicht einer bekannten Person oder das eigene Zimmer: manche Menschen können sich solche Dinge nicht bildlich vorstellen.

Du liest ein Buch. Die Autorin malt mit ihren Worten ein Bild: sie beschreibt eine Halle bis ins kleinste Detail. Die Leser*innen haben das Gefühl dabei zu sein und in das Bild abzutauchen. Manche können sich ihr Leben lang an diese Halle erinnern, so, als ob sie wirklich da gewesen wären. Eine Selbstverständlichkeit für fast alle von uns. Es gibt aber auch Menschen, die vor ihrem geistigen Auge keine Bilder sehen können.

Dieses Phänomen nennen Forscher*innen Afantasie. Der Begriff bezeichnet ein fehlendes bildliches Vorstellungsvermögen, worunter etwa ein bis vier Prozent der Menschen leiden. Definiert wurde der Begriff 2015 von Adam Zeman, Professor für kognitive und Verhaltensneurologie an der University of Exeter College of Medicine and Health. Er behandelte einen Patienten, der sich Freunde, Familienmitglieder und Orte nicht mehr bildlich vorstellen konnte. Früher hatte er das Lesen und die Welten in seinem Kopf geliebt, jetzt war da Dunkelheit. Der Patient hatte eine Operation am Herzen, bei der er vermutlich einen leichten Schlaganfall erlitten hatte. Nachdem Zeman einen Artikel über den Fall veröffentlich hatte, wurde er von weiteren Betroffenen kontaktiert: Viele Menschen teilten das Schicksal seines Patienten, waren sogar noch nie in ihrem Leben dazu in der Lage gewesen, in ihrer Fantasie Bilder zu konstruieren.

Und was bedeutet das für die Betroffenen?

Um auf das obige Beispiel zurückzukommen: Menschen mit Afantasie können sich nicht vorstellen, wie genau die Halle in ihrem Buch aussieht. Möglicherweise können sie sich auch nicht vor ihr inneres Auge rufen, was sie gestern zu Abend gegessen haben, wie genau die Marmelade auf dem Brot verteilt war oder wo die Tasse und der Teller standen. Afantasist*innen hätten außerdem ein schlechteres autobiografisches Gedächtnis, erklärt Merlin Monzel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Bonn. „Sie wissen beispielsweise, dass sie verheiratet sind, können sich aber nicht an die Hochzeit selbst erinnern“, sagt Monzel. Bei erzählten Geschichten hätten Afantasisten und Afantasistinnen oftmals auch ein eingeschränktes Empathievermögen. Monzel erklärt: „Wenn man einem Afantasisten erzählt, dass jemand eine Treppe hinuntergestürzt wird, empfindet dieser weniger Empathie. Das liegt daran, dass er sich das Ganze nicht bildlich vorstellen kann, Emotionen werden aber in Bildern transportiert.“

Dass die Banane gelb ist, wissen die Betroffenen trotzdem

Menschen mit Afantasie können ihr fehlendes Vorstellungsvermögen oft mit logischem Denken kompensieren. „Imagination ist eine viel reichere und komplexere Fähigkeit als die Verbildlichung“, schreibt Adam Zeman im American Scientist. Deutlich wird das am Beispiel der gelben Banane. Sollen Menschen ohne Afantasie sagen, welche Farbe eine Banane hat, sehen sie in ihrem Kopf vermutlich ein Bild davon. Monzel erklärt, dass Afantasist*innen zwar kein Bild einer Banane vor ihrem inneren Auge sehen würden. Sie wüssten aber trotzdem, dass Bananen gelb sind. So können sie ihren Alltag ganz normal meistern.

Die Ursache von Afantasie bislang nicht erforscht

Was die Afantasie auslöst, wissen Forscher*innen nicht. Sie kann entweder als Folge einer Krankheit, wie eines Schlaganfalls, entstehen oder begleitet Betroffene von Geburt an. Möglicherweise könnte es auch eine genetische Komponente geben. Eine andere Vermutung geht davon aus, dass die Afantasie ihre Ursache in einer Störung der Gehirnfunktion hat. Adam Zeman sieht die Afantasie jedoch nicht grundsätzlich als Erkrankung an, viel weiß man darüber aber noch nicht. Weitere Studien zur Afantasie sind deshalb in Planung. Auch Monzel arbeitet gerade an vier verschiedenen Studien, für welche er und sein Team immer auf der Suche nach Teilnehmer*innen sind. Interessierte (mit und ohne Afantasie) können sich unter diesem Link melden.

Habe ich Afantasie?

Du bist dir nicht sicher, ob du auch an Afantasie leidest? Du kannst dir Dinge nicht so vorstellen wie im echten Leben? Dann haben wir hier ein kleines Experiment für dich:

Stell dir vor, dass eine Person den Raum betritt. Sie geht zu einem Tisch, auf dem ein Ball liegt. Die Person nimmt den Ball und wirft ihn davon. Nun ein paar Fragen:

            Wie sah die Person aus?

            Wie sah der Tisch aus?

            Wie sah der Ball aus?

            Was hat der Ball gemacht, als er weggeworfen wurde?

Während sich manche Menschen die Szene bis ins kleinste Detail ausmalen können, sehen manche zwar den Moment, tauchen aber nicht komplett in ihn ein. Dieser Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass manche Menschen eine stärkere Vorstellungskraft haben als andere. Die anderen haben dann aber natürlich nicht gleich Afantasie. Afantasie habt ihr dann, wenn ihr bei den Fragen zwar wusstet, wie die Dinge auszusehen haben, aber innerlich nur schwarzgesehen habt.

Afantasie bekommt immer mehr Aufmerksamkeit

Durch die sozialen Medien bekam das Phänomen immer mehr Aufmerksamkeit. So gab 2020 beispielsweise Bonnie Strange bekannt, dass sie von Afantasie betroffen ist. Sie erzählt: „Ich sehe keine Erinnerungen, ich erinnere mich einfach völlig ohne Bilder an sie. Weder habe ich Tagträume noch kann ich mir die Gesichter meiner Freunde im Kopf vorstellen.“ Da Betroffene unter ihrer Afantasie oft leiden, wurde der 18. August von der Onlinecommunity von Menschen mit Afantasie zum Aphantasia Awareness Day erklärt.

Schon Albert Einstein sagte: „Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.“ Und nun stellen wir uns einmal vor, dass es die Fantasie ist, die begrenzt ist.

Mehr zum Thema:

Folge ZEITjUNG auf FacebookTwitter und Instagram!

Bildquelle: Hanna Saad von Pexels; CC0-Lizenz