Alte Männer, die auf Matten starren
Ich sitze in der Cafeteria, stochere in meinem Gemüsebratling herum und unterhalte mich mit der Patellasehne und dem Gelenkrheuma, während um uns leise die Krücken klackern. Ja, ich nenne Leute jetzt einfach nach ihrem jeweiligen Symptom, schon allein aus Gründen der Anonymität. Warum ich hier in der Reha bin? Weil ich zu den tausenden von (jungen) Menschen gehöre, die so „Rücken“ haben, dass es ihnen regelmäßig das Leben verhagelt, nicht so schlimm, dass man nicht mehr im Alltag und in der Arbeit funktionieren könnte, aber soweit möchte ich es eben gar nicht erst kommen lassen. Also mal gediegen ein paar Wochen in einer Kurklinik abhängen und intensiv an meiner Gesundheitsproblematik arbeiten. Dachte ich zumindest.
Willkommen auf dem Zauberberg
Der erste Tag ist direkt sehr ernüchternd. Erst einmal wird mir von einer sehr einfühlsamen Krankenpflegerin bei der Blutentnahme der Arm zerstochert. Die darauffolgende Eingangsuntersuchung durch eine unglaublich lustlose Assistenzärztin dauert ganze fünf Minuten. Nach ein bisschen nach vorn beugen und Motorik-Prüfung weiß ich eigentlich nur, dass ich weder Ischias noch einen Bandscheibenvorfall habe (was ich ohnehin wusste). Eine halbe Stunde später habe ich einen Behandlungsplan für die erste Woche in der Hand, der vollgestopft ist mit Gymnastik, Krafttraining und Gruppentherapie. Also entspannend wird das hier definitiv nicht. Egal, erst mal den Ruheraum suchen, den ich mir mit drei anderen ambulanten Patienten teile. Zum Glück sind wir ein netter, mehrheitlich junger Haufen und Knieproblem, Schulter-OP und Burnout nehmen mich herzlich auf.
So sympathisch sind aber leider weitaus nicht alle hier. Auf dem Weg durch die Flure fällt es mir zum ersten Mal auf: das Starren. Viele ältere Patienten beäugen mich und auch die anderen Jungen mit einem skeptisch-prüfenden Blick, versuchen zu diagnostizieren, warum wir wohl hier sind, so ohne Krücken, ohne Übergewicht. Die älteren Herren starren aber auch noch aus einem anderen Grund und ich möchte manch einem besonders dreisten Glotzer einen höflichen Hinweis auf seinen ohnehin schon krankhaft erhöhten Blutdruck geben. Ich will mir keinen Kurschatten anlachen, sondern mich behandeln lassen.
Der Fehler im System
Zur Behandlung gleich mal vorweg: Wunder zu erwarten wäre hier vermessen, für komplexe Schmerzprobleme wird auch hier keine Spontanheilung geboten. Die Therapien sind auf Masse ausgelegt, für den Einzelnen sind schlicht nicht genug Ressourcen vorhanden. Und als junger Mensch ist man nicht unbedingt die implied audience. Während ich in einem Vortrag sitze, in dem mir erläutert wird, dass Sport gesund ist und kein Sport dick machen kann, ahne ich, dass dieser Programmpunkt wohl eher für die bierbäuchigen Mittsechziger um mich herum konzipiert wurde. Meine Vermutung bestätigt sich beim Gespräch mit dem Arzt, der etwas resigniert erläutert: „Wissen Sie, wir kriegen hier einen Katalog von der Rentenversicherung mit Behandlungen, die wir durchführen müssen.“
Beruhigend zu wissen, dass hier Verwaltungsfachangestellte und BWLer über unsere Behandlung entscheiden, statt die Ärzte und Therapeuten vor Ort, die wirklich wissen was sie tun. Dabei jammere ich hier noch auf hohem Niveau, in den Gruppentherapien sitzen Leute, die ihren Job wegen Krankheit oder Behinderung verloren haben, die ganz andere Sorgen haben als ich, die ja präventiv und freiwillig hier ist. Umso wütender macht es einen da, das Gefühl zu haben, durch ein System geschleust zu werden, das mehr dazu dient, dass die Versicherungen Häkchen setzen können, als der wirklichen Lösung der gesundheitlichen Probleme. Aber das soll ja hier keine Systemkritik werden…
These Asiletten are made for walking…
Immerhin gibt es auch ein paar Therapien, die gut sind. Die Wirbelsäulengymnastik zum Beispiel, angeleitet von einem jungen Physiotherapeuten, der die Übungen auf der Matte mit soviel Herzblut und Humor erklärt, dass man ihm um den Hals fallen möchte, dafür dass er sich trotz mieser Arbeitsbedingungen, vermutlich ebenso mieser Bezahlung, grummeliger alter Mitturner und einem starren System so hingebungsvoll um die Patienten kümmert. Das krasse Gegenteil erlebe ich bei der Fangobehandlung: zu zehnt wird man in die Kabinen verwiesen, fühlt sich mehr als Häftling, denn als Patient. „Oberteil aus! Hinlegen!“ Zu Befehl Sir, Herr Therapeut, Sir! Dann liegt man 20 Minuten da, während einem der Rücken gefühlt wegschmilzt, um sich dann verschwitzt wieder anzuziehen und zum nächsten Programmpunkt zu hetzen.
Apropos anziehen: An den ersten Tagen ziere ich mich noch, den ganzen Tag in Jogginghose rumzulaufen, wie es die meisten hier tun. Nach einer Woche gebe ich dem Gruppenzwang aber endgültig nach, Lycra ist von da an mein bester Freund und dank meinem Lotter-Look zwischen Fußball-Amateur und 8 Mile werden die Gaffer auch ein bisschen weniger. Man hat es hier nicht nur modisch als Individualist schwer und fühlt sich schon als regelrechter Quertreiber, wenn man wagt zu hinterfragen, was manche der Punkte auf dem Stundenplan eigentlich mit einem selbst zu tun haben. Im Vortrag über gesunde Ernährung, den ich bereits in der 4. Klasse hatte, möchte ich jedenfalls laut aufstöhnen. Oder einnicken. So wie der ältere Herr, der die theoretische Einführung zur Progressiven Muskelentspannung mit seinem Schnarchen untermalt.
Überhaupt muss man sich in der Reha erst einmal dran gewöhnen, dass viele der Anwesenden die Klinik als komplett privaten Raum sehen, sämtliche Hemmungen ebenso schnell fallen lassen, wie ihre Jeans, und gelegentlich fühlt man sich, als wäre man aus Versehen am Set einer Scripted Reality Serie gelandet. „Ja, sie haben hier einen Querschnitt der Gesellschaft“, sagt die Therapeutin in einer der ersten Gruppensitzungen. Ihre Worte klingeln mir beinahe schmerzhaft im Ohr, als ich meine neue Zimmernachbarin kennenlerne, die nicht nur wahnsinnig laut und wahnsinnig politisch inkorrekt ist, sondern uns auch erst einmal ungefragt den Status ihrer Verdauung (derzeit nicht stattfindend) mitteilt. Ich schaue mich reflexartig nach Kameras um.
Protip: Das Beste daraus machen
Wie überlebt man dieses soziale und medizinische Experiment also? Erst mal ist es wichtig, deinen Behandlungsplan ein bisschen zu hacken, denn das, was das Computerprogramm der Versicherung zusammenstellt, macht oft schlicht keinen Sinn. Also am besten gleich am Anfang mit den Ärzten besprechen, welche Anwendungen für dich passend sind und welche nicht und letztere vom ohnehin überambitionierten Stundenplan schmeißen. Nervt die Versicherungen ungemein, hilft dir als Patient aber mehr, als dich mit Heuschnupfen durchs Walking zu quälen oder Krafttraining für die falschen Muskelgruppen zu machen. Wenn du coole Ärzte und Therapeuten hast, spielen sie mit. Zweitens: Such dir Verbündete. In jeder Klinik laufen auch ein paar jüngere, sympathische Menschen rum, mit denen man sich beim Mittagessen zusammenrotten und über all die großen und kleinen Ausfälle ablästern kann. Das hilft dir, dich täglich dem muffeligen Rollatormob und der RTL II-Crew zu stellen, ohne größere Nervenzusammenbrüche zu erleiden. Außerdem lernt man beim zwanglosen Mittagsgespräch oft mehr über die eigenen Schmerzen und Behandlungsmethoden als in den Therapien. Nimm mit, was dir sinnvoll erscheint (Vorsicht allerdings vor den Diagnose-Dealern, die dir ihre Erkrankung aufschwatzen wollen!). Drittens: Auch wenn das Programm und die Ausstattung vielleicht nicht deinen Erwartungen entsprechen, versuche es zu genießen, mal für ein paar Wochen aus dem Alltagstrott raus zu sein. Allein das kann schon immens heilsam sein.
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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz