Demenz: Wenn man sich selber vergisst.

Demenz: Die Nebenrolle im eigenen Leben

Katharina wollte die Hauptrolle spielen

Die Dielen knarzen unter Danielas Schritten. Der Putz bröckelt von den vergilbten Wänden. Katharina und ihr Mann haben sich das Haus zu Beginn der 70er-Jahre gekauft. Im Erdgeschoss führte er eine Kanzlei. „Meine Mutter wollte immer die Frau mit dem tollen Haus sein, die Frau Rechtsanwalt“, erzählt Daniela. Das Rechtsanwalt-Schild ließ Katharina nach der Scheidung und dem Umzug der Kanzlei hängen. Katharina wollte gesehen werden, die Hauptrolle spielen. Jetzt lebt sie alleine in dem riesigen Haus und spielt die Nebenrolle in ihrem eigenen Leben.

Im Schlafzimmer liegen angebissene Brote und leere Joghurt-Packungen. Katharina folgt Daniela wie ein Geist und sagt immer wieder: „Lass das halt.“ Daniela schüttelt Katharinas Kissen aus und faltet die Decke. „Mami, du kannst ja die Blumen auf dem Balkon gießen“, schlägt Daniela vor und hält ihr die Gießkanne hin. Katharina schaut sie mit großen Augen an und fragt: „Wie geht das?“ Sie geht drei Schritte und bleibt dann stehen. „Lass das halt.“ Katharina sieht sich im Schlafzimmerspiegel. „Mei, habe ich graue Haare. Wie eine alte Frau“, flüstert sie. Früher waren ihre Haare rot. Im Rahmen des Spiegels klemmt ein altes Foto, auf dem man eine lachende Katharina sieht. „Das war auf einer tollen Feier“, sagt sie. „Alle waren verliebt in mich.“ Früher hat sie als freiberufliche Reiseredakteurin gearbeitet. Katharina war immer neugierig. Ihr war es wichtig, dass ihr die Welt offen steht. „Und jetzt dreht sich ihre Welt darum, ob ein Actimel im Kühlschrank steht“, sagt Daniela.

Katharina fährt sich durch die Haare. „Willst du die Haare mal wieder waschen?“, fragt Daniela. Katharina rollt mit den Augen. „Nicht schon wieder.“ Sie hat ihre Haare das letzte Mal vor zwei Wochen gewaschen. „Mami“, bittet Daniela. Katharina bückt sich schwerfällig über die Badewanne. Daniela lässt das Wasser über ihren Kopf laufen. „Das ist zu heiß“, meckert Katharina. „Immer noch“, sagt sie. „Das ist viel zu heiß.“ Das Wasser ist lauwarm.

Die vertauschten Rollen

Daniela drückt Katharina den Föhn in die Hand und verlässt das Badezimmer. Solange ihre Mutter abgelenkt ist, stopft Daniela Katharinas schmutzige Klamotten in die Waschmaschine. „Manchmal muss ich sie richtig überlisten.“ Daniela seufzt. Katharina möchte ihre Hilfe nicht. „Es ist ein völliges Verleugnen ihres eigenen Zustands.“ Der Föhn geht aus und Katharina kommt aus dem Bad. Sie geht zum Kühlschrank und fragt: „Wo kommt das denn her? Hast du mir das mitgebracht?“. Daniela nickt. „Stimmt“, antwortet Katharina und nickt. „Das kommt mir bekannt vor.“ Sie schlägt sich gegen die Stirn. „Irgendwas stimmt mit meinem Kopf nicht.“ Sie klingt verzweifelt. „Das kommt von der Leberzirrhose“, versucht Daniela ihr zu erklären. „Welche Leberzirrhose? Ich habe doch keine Leberzirrhose“, fährt Katharina sie an.

„Man will nicht, dass die eigene Mutter nichts checkt“, sagt Daniela. „Aber das ist ein nicht lösbares Problem. Unsere Rollen sind vertauscht, aber meine Mutter akzeptiert das nicht. Dieses Betteln um jeden Handgriff ist für alle Beteiligten unwürdig.“ Katharina schlurft zurück zum Sofa. „Brauchst du noch was?“, fragt Daniela. „Schleich dich. Ich will meine Ruhe“. Langsam setzt Katharina sich hin und greift nach einer Decke und der Zeitung.

Daniela nimmt Altpapier und Pfandflaschen in die Hand und verabschiedet sich. „Soll ich dir noch tragen helfen?“, ruft Katharina aus dem Wohnzimmer. Das könnte sie  gar nicht. Die Frage ist eine Floskel, ein Relikt, ein Überbleibsel von früher. „Manchmal blitzt ihr altes Ich durch. Dann sagt sie Dinge, die sie früher immer gesagt hat oder macht ihre Standardwitze“, erzählt Daniela. Wie bei einem Puzzle. Es besteht aus den gleichen Teilen wie früher, man kann es nur nicht mehr richtig zusammensetzen.

Mehr zum Thema:

Folge ZEITjUNG auf FacebookTwitter und Instagram!

Bildquelle: Kindel Media auf Pexels; CC0-Lizenz