Hassobjekt: Der Wecker
Lieber Wecker,
das wird jetzt vielleicht hart, aber ich hasse dich! Vielleicht hast du es ja schon geahnt: unsere Beziehung ist schwierig. In vielerlei Hinsicht brauche ich dich, ja bin sogar auf dich angewiesen. Du hilfst mir zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, du ermöglichst es mir, Flüge nicht zu verpassen, verhinderst, dass ich ganze Tage verschlafe und sorgst dafür, dass meine Pizza im Ofen nicht verbrennt. Die meisten Dinge würde ich ohne dich gar nicht hinbekommen, also Danke dafür.
Am liebsten würde ich dich mit aller Gewalt zerstören
Doch manchmal möchte ich dich am liebsten umbringen und mit aller mir zur Verfügung stehenden Gewalt zerstören. Meistens dann, wenn du es wagst vor 8 zu klingeln, es draußen noch dunkel und vor allem kalt ist. Dann schneiden deine Töne mein selig schlummerndes Gehirn ohne Vorwarnung in schmale Scheiben. Dann schrecke ich hoch und weiß oft für einen Moment weder wer, noch wo ich bin. Dann verschmelzen meine Träume und deine Musik zu einer schrägen Mischung, die es erschwert eine gerade Linie zwischen Realität und Traum zu ziehen.
Vor allem, wenn du snoozed, ach Wecker, dann wirst du unerträglich. Mit dieser kleinen Illusion der Rückkehr ins Traumland, nur um mich 5 Minuten später erneut wieder herauszureißen, machst du mir den Morgen zu einer nicht enden wollenden Hölle. Ich habe dich oft unterschätzt, aber in solchen Momenten wird mir unliebsam bewusst, dass du den längeren Atem von uns beiden hast und dieses Spiel unendlich fortsetzen kannst, wenn du es nur wolltest.
„Mein Wecker ist ein sadistisches Arschloch“
„Mein Wecker ist ein sadistisches Arschloch“, sagte meine Freundin einmal, während sie von dir als einen tyrannischen Diktator sprach. Teuflisch bist du wahrlich, kein Zweifel. Wie sonst würdest du es übers Herz bringen, ein friedlich träumendes Wesen so zu erschrecken? Kein anderer wagt es, Tag für Tag wie ein Monster unterm Bett hervor zu kriechen, den nichts ahnenden Schlafenden zu packen und mit aller Kraft wachzurütteln, bis derjenige vergisst, wer er eigentlich ist. Aber ein Diktator? Wärst du Alleinherrscher über meine Schlafgewohnheiten, keiner wüsste, wie die aussehen würden. Doch so viel Macht hast auch du nicht. Am Ende bin diejenige, die dich stellt, noch immer ich. Es sind meine Finger, die über Tasten schweben und eine Uhrzeit programmieren, von der ich bereits vorher weiß, dass sie zu keinem schönen Erwachen beiträgt und mir in angsterfüllter Antizipation schon das Einschafen vermiest. Nur um einen sozialen Jetleg zu erzeugen, der mich oft mitten am Tag in die Knie und zur Kapitulation zwingt.
„Schlafende Menschen darf man nicht wecken“
Wie du es schaffst, immer und immer wieder zu klingeln, dir wieder und wieder die gleichen Vorwürfe anzuhören ohne aufzugeben, ist auch beeindruckend. Ich selbst bin nicht im Stande jemanden auch nur ansatzweise so effizient zu wecken wie du. Meist zögere ich so lange, bis es bereits zu spät ist. Meine Grundschullehrerin sagte einmal, als eine Schülerin in ihrem Unterricht einpennte: „Schlafende Menschen darf man nicht wecken.“ Was genau sie damit meinte, kann ich 20 Jahre später schlecht beurteilen. Jedenfalls sitzt das immer noch tief und immer noch fällt es mir unglaublich schwer andere wecken. Das geht sogar soweit, dass die wegen mir wichtige Termine versäumen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass niemand, auch nicht du, lieber Wecker, das Recht hat, den Menschen ihre Träume zu zerstören.
Vermissen oder Stockholm-Syndrom?
Tagtäglich schmeißt du mich aus der Nacht, wie aus einem Flugzeug – nur ohne Fallschirm. Du lässt mich einfach fallen und ohne Vorwarnung in der Realität aufprallen. Zerrst mich an den Haaren durch meinen Verstand und wirfst mich ins eiskalte Wasser der Morgendämmerung.
Aber es gibt auch Tage, an denen beanspruche ich deine Leistungen nicht. An solchen Morgen schrecke ich häufig ganz von allein auf, sehe mich um und bekomme panische Angst, verschlafen zu haben. Dann dauert es einen kurzen Moment, bis ich verstehe, dass auch du heute frei hast. Ob das Vermissen ist oder schlichtweg ein Stockholm-Syndrom kann ich schlecht sagen.
Gott sei Dank, sind wir beide nicht nachtragend
Am Ende muss ich dir doch eine Sache zugestehen: Du opferst dich als Buhmann, stellst dich zur Verfügung, dafür, dass dich jemand wütend durch den Raum wirft, die Snooze-Taste missbraucht, nur um dich später zu beschimpfen. Du weißt auch, dass ich eigentlich nicht dich hasse, sondern das System, welches mich zwingt, so früh aufzustehen. Bis sich das ändert, wird unsere Hassliebe wohl fortgeführt: Ich werde dich weiterhin bitten, mich viel zu früh zu wecken, und du wirst weiterhin klingeln und dafür Missachtung ernten. Gott sei Dank, sind wir beide nicht nachtragend.
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