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Eine Liebeserklärung an: Den Kontrollverlust

Es sind die kleinen Dinge, die uns unseren tristen Alltag versüßen und das Leben ein bisschen besser machen. Ob es hübsche Gänseblümchen sind, die am Straßenrand wachsen oder eine Kugel deiner liebsten Eissorte – wir alle haben kleine Muntermacher in unserem Alltag, über die wir nur selten ein Wort verlieren. Das soll sich jetzt ändern! Wir bieten euch eine Liebeserklärung an die kleinen Dinge, die uns in stressigen Situationen retten, an schleppenden Tagen motivieren oder uns die guten Tage versüßen!

Eine Liebeserklärung von Maxi Jung

Dein Leben verläuft nach Plan. Montag bis Freitag gehst du zur Uni, in den Ausbildungsbetrieb oder in die Arbeit. Abends vielleicht ins Kino, auf einen Drink in deine Lieblingsbar, wenn du eine/r von denen bist, die ihr Leben wirklich im Griff haben, dann schaffst du es sogar noch regelmäßig ins Fitness-Studio. Nicht, weil du den Body haben willst, den die zwei Millionen Instagram-Models dir entgegenstrecken, sondern weil es gesund ist und dir gut tut – wer will schon mit Ende 30 einen Bandscheibenvorfall erleiden?

Loyalität ist dir wichtig. Pünktlichkeit fandest du früher spießig, mittlerweile hast du aber eingesehen, dass alle damit besser fahren. Du hast trotz gelegentlichen Zukunftsängsten und kurzen Depri-Phasen allgemein das Gefühl, dass du alles auf die Reihe kriegst. Immerhin besitzt du einen Filofax und denkst am Sonntagabend darüber nach, was du am nächsten Tag alles erledigen musst, du machst deine Steuererklärung, du führst intellektuelle Gespräche, du bist alles in allem: zufrieden. Mit dir, mit deinem Erwachsenenleben.

Tonic auf den Lippen, Bässe in der Brust

Aber dann, wenn dich die Nacht in ihren Armen wiegt und du den bitteren Geschmack des längst geleerten Drinks noch auf deinen Lippen spüren kannst, wenn du zwischen flackernden Lichtern und treibende Bässen dein Herz in der Brust pumpen fühlst, dann trittst du ein in diese rauschhafte Zone, in der es keine Werktage und keinen Terminkalender gibt, sondern nur dich und das wohlige Gefühl der absoluten Unvernunft.

Dann lässt du dich gehen. Wie das schon klingt: sich gehen lassen. Als ob Stillstand etwas Erstrebenswertes ist. Du füllst deine Lungen mit dem beißenden Rauch von Gras und Tabak, deinen Magen mit vor Fett nur so triefendem Zeug, du schmeckst fremde Zungen in deinem Mund und kalten Nieselregen auf der Haut.

Du lachst. Nicht kontrolliert, nicht so, wie man es dir beigebracht hat: zurückhaltend und deshalb sympathisch. Nein, du gackerst wie ein verdammter Irrer.

Du tanzt. Nicht cool und erotisch wie die makellos geschminkte Traumfrau neben dir, die ihre Hüften aufreizend kreisend lässt und dabei trotzdem die Eleganz eines Renaissance-Gemäldes versprüht. Du tanzt, als ob du die Kontrolle über deine Gliedmaßen vollkommen verloren hast.

Du hast Sex. Nicht so, wie es in Filmen immer aussieht, perfekt rasiert und extrem verführerisch. Sondern laut, egoistisch und schamlos. Du scheißt auf die kleine Wampe, die du mittlerweile hast, du scheißt auf deinen vermutlich nicht besonders betörenden Atem, du scheißt auf all die Klischees, denen du dich sonst mehr oder weniger bewusst unterwirfst.

Du weißt, was auf dich zukommt

Es gibt auf jeder Party diesen einen Moment, an dem sich alles entscheidet: Gehe ich jetzt nach Hause – oder mache ich weiter? Und wenn du dich für die zweite Variante entscheidest, dir doch noch einen Drink holst, doch noch eine Zigarette rauchst, dann ist dir eigentlich klar, wohin das führen wird. Zu Kopfschmerzen, zu nebulösen Erinnerungen an sinnbefreite Gespräche und chaotische Küsse, während die Sonne ihre ersten zarten Strahlen über den noch nachtbeschatteten Himmel schickt. Zu einem Kater, der so schlimm ist, dass du dir anschließend schwören wirst, erstmal eine Detox-Kur einzulegen. Tu nicht so, als würdest du das alles nicht schon wissen, während du bewusst diese feine Grenze überschreitest, die die Vernunft von der Unvernunft und die Kontrolle vom Kontrollverlust trennt. Du weißt ganz genau, was auf dich zukommt. Und machst es trotzdem.

Wir alle brauchen den Rausch. Manche nur ein paar Mal im Jahr, andere jedes Wochenende. Der französische Philosoph Georges Bataille war sogar der Meinung, eine Gesellschaft benötige diese orgiastischen Grenzüberschreitungen regelmäßig, um normal zu funktionieren. Und genau darum geht es doch: auszubrechen aus dem Korsett des Alltags, das uns so viel Sicherheit bietet, ja so etwas wie eine Zukunft überhaupt erst ermöglicht, das aber trotzdem immer fad schmeckt wie der letzte Keks in einer zu lange geöffneten Packung.

Der Kontrollverlust aber schmeckt nach Tonic und Tabak, er riecht wie Regen auf heißem Asphalt und fühlt sich an wie das Frischverliebtsein. Der Preis, den du dafür zahlst: ein ätzender Kater, der mit steigendem Alter noch ätzender wird, ein verlorener Folgetag und fehlender Schlaf, der dir noch tagelang nachhängen wird. Aber: Kein Schönheitsschlaf der Welt ist es wert, dieses süße, wilde Gefühl der Unvernunft zu verpassen. Und jetzt los, geh dir noch einen Drink holen.