junge Astrid Lindgren im Film

Astrid Lindgren: Mit Fantasie direkt ins Kinderherz

„Es ist ein sehr kleines Dorf. Da sind nur die drei Höfe: Der Nordhof, der Mittelhof und der Südhof. Und nur sechs Kinder: Lasse und Bosse und ich und Ole und Britta und Inga.“ Diese Zeilen sind eine Zeitmaschine zurück in meine Kindheit, direkt hinein ins schwedische Dorf Bullerbü und damit rein in eine der berühmtesten Kinderbuchreihen aller Zeiten. Die Zeilen lesen sich, als wären sie direkt der Feder eines Kindes entsprungen, doch die Verfasserin war bei der Veröffentlichung ihres Werkes 40 Jahre alt. Eine Hommage an die beste Geschichtenerzählerin aller Zeiten – Astrid Lindgren.

 

Liebe Astrid Lindgren,

 

mit diesem Brief möchte ich mich von Herzen bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie in mir Kindheitserinnerungen geschaffen haben, die fantastisch sind – im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Ich bin niemals ohne Sattel auf dem Kleinen Onkel durchs Dorf geritten oder hatte Herrn Nilsson auf meiner Schulter sitzen und ich habe niemals im Winter gegen Diebe gekämpft, um den Goldschatz meines Vaters, dem Seemann, zu verteidigen. Ich wurde niemals wegen meiner Streiche in den Holzschuppen gesperrt, bin trotz meines regen Appetits niemals mit dem Kopf in der Suppenschüssel steckengeblieben, habe niemals Klein-Ida auf den Fahnenmast gezogen und habe auch niemals eine ganze Bande halb verhungernder Senioren zum Weihnachtsessen eingeladen. Ich habe mir niemals ein Kinderzimmer mit Lasse und Bosse geteilt und die beiden haben mir nachts auch noch nie Spukgeschichten erzählt. Ich habe keine genetischen Wurzeln im Taka-Tuka-Land und nur die inneren Werte meines Kinderzimmers verdienten früher die Bezeichnung „Villa Kunterbunt“. Ich bin fast etwas glücklich darüber, dass ich auf dem Hof Katthult in Lönneberga niemals selbst Holzfiguren erschaffen habe und obwohl ich ein Kind vom Dorf bin, ist dessen Name nicht Bullerbü.

 

Obwohl ich all das nur (vor-)gelesen (bekommen) habe, kann ich diese Geschichten heute immer noch deutlich blumiger beschreiben als meine selbst erlebte Kindheit. Das liegt nicht etwa daran, dass ich ein fotografisches Gedächtnis hätte. Ich bin sicher, dass diese Vorstellungskraft in jedem von uns schlummert. Sie muss aber erst einmal geweckt werden. Sie, liebe Frau Lindgren, waren die erste Person in meinem Leben, die das geschafft hat. Mit den Protagonisten Ihrer Erzählungen haben Sie für mich und unzählbar viele Kinder weltweit Freunde geschaffen, denen man sich durch das Lesen und Zuhören ihrer Worte sehr nahe und verbunden fühlt. Auch deshalb, weil sie so sehr an eigene Geschwister, Eltern und Nachbarskinder erinnern. Sie erzählen ihre Geschichten viele Jahre nachdem Sie selbst ein kleines Mädchen waren so, als wären sie noch immer eines. Und das kaufe ich Ihnen (und damit stehen Sie im Kreise der Kinderbuchautoren ziemlich alleine da) wirklich ab – voll und ganz. Sie müssen sich über all die Jahre ein außergewöhnlich kindliches Gemüt beibehalten haben und dafür haben Sie meine vollste Bewunderung. Würde man mich in diesem Moment nach meinem Vorbild fragen, dann würde ich keinen Augenblick zögern und Ihren Namen nennen.

 

Sie müssen wissen, dass im Kino gerade ein ganz wunderbarer Film gezeigt wird. Er erzählt die Lebensgeschichte einer jungen, intelligenten Frau, die sich entschieden gegen Konventionen stellt und durch ihr innerliches Brennen auch die dunkelsten Momente  erhellt. Der Film mit dem Titel „Astrid“ ist Ihre Biografie. Im Film fliegen Ihnen jede Menge liebevoller und bewundernder Briefe Ihrer jüngsten Fans zu, weshalb auch ich mich entschieden habe, meine Gedanken in diese Form zu bringen.

 

 

Liebe Frau Lindgren, ich wusste neben ihrem literarischen Ausnahmetalent um ihr ehrenamtliches Engagement. Sie kämpften gegen die Atomkraft und Massentierhaltung, für ein besseres schwedisches Steuergesetz, sprachen sich für das Recht auf selbstbestimmtes Sterben aus und waren ein Leben lang d’accord mit Herbert Grönemeyer, wenn er singt: „Die Welt gehört in Kinderhände, dem Trübsinn ein Ende!“ Nein – trübsinnig ist wirklich das letzte Attribut, das man Ihrer Person zuschreiben möchte.

Dabei hätte es auch in Ihrem Leben durchaus Gründe gegeben, die den berühmten Kopf im Sand gerechtfertigt hätten. Und um diese Momente wusste ich bis vor Kurzem nicht. Mit 17 Jahren wurden Sie schwanger von Ihrem deutlich älteren Chef. Was heute noch maximal zu einer hochgezogenen Augenbraue reichen würde, war zu damaligen Zeiten ein handfester Skandal. Sie nahmen Ihr Schicksal an und übergaben Ihren Sohn einer Pflegemutter, erst im Alter von vier Jahren holten Sie ihn zurück zu sich. Er kannte Sie bis dahin kaum und Sie taten das, was Sie am Liebsten machten und am ausnahmslos Besten konnten: Sie erzählten sich zurück in sein Herz.

Astrid Lindgren mit Sohn

Liebe Astrid Lindgren, ich durfte Sie leider nie persönlich kennenlernen und doch fühlte ich mich nach dem zweistündigen Streifzug durch Ihr Leben, als hätten wir schon einmal zusammen Kaffee getrunken. Genau so erging es mir auch immer mit Ihren Figuren. Ich danke Ihnen für Ihre grenzenlose Fantasie und dafür, dass Sie mir gezeigt haben, dass es für das Kindsein wirklich kein Ablaufdatum gibt. Ganz nach dem Motto: „Sei Pippi, nicht Annika!“

 

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Bildrechte: DCM/Erik Molberg Hansen