Nguyen-Kim: „So werden wir von der Politik ver*rscht“
Nguyen-Kim und Politik: Die Wissenschaftsjournalistin strebt zwar keine eigene Karriere an, setzt aber mit einem neuen Video ein wichtiges Zeichen gegen Populismus.
„Nerds and die Macht“ – mit diesem Slogan erweckte die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim in einem YouTube-Video vor wenigen Tagen den Eindruck, dass sie möglicherweise eine eigene Partei gründen oder zumindest eine politische Karriere anstreben könnte.
Nguyen-Kim hat diese Andeutungen nun als Experiment gegen Populismus im Rahmen der ZDFneo-Sendung „Maithink X – Die Show“ aufgelöst. Der verheißungsvolle Titel: „So werden wir von Politikern ver*rscht“ – natürlich ganz bewusst gewählter Populismus in Reinform, um über die Effekte genau dessen aufzuklären.
In knapp dreißig Minuten zeigt Nguyen-Kim (Video hier in der ZDF-Mediathek verfügbar, wahlweise auch auf YouTube) rhetorische Tricks von Populist*innen. Insgesamt fünf Techniken werden beleuchtet, darunter die schweigende Mehrheit, das falsche Dilemma, persönliche Angriffe, Strohmann und Motte & Bailey. Um das Ganze anschaulich und abwechslungsreich zu gestalten, erhält Nguyen-Kim Unterstützung von zwei Darsteller*innen, die einige der Rhetorik-Werkzeuge in alltäglichen Situationen auf eine überzogen-unterhaltsame Art nachspielen. Was folgt sind subtilere (und nicht-subtilere) Praxis-Beispiele aus der Politik. Wir haben die thematisierten Tricks hier für euch in aller Kürze zusammengefasst, empfehlen aber für ein tieferes Verständnis das gesamte Video von Nguyen-Kim anzusehen.
Rhetorik-Werkzeuge des Populismus
Schweigende Mehrheit: Eine sich (womöglich) in der Minderheit befindende Gruppe spricht sich eine vermeintlich unsichtbare „schweigende Mehrheit“ herbei, um sich in der Mehrheit zu fühlen, die eigene Positionen zu legitimieren und durchzusetzen.
Falsches Dilemma: Es wird dargestellt, als gäbe es nur zwei extreme Alternativen zwischen denen gewählt werden könnte und keine Lösungen dazwischen. So zitiert beispielsweise Sahra Wagenknecht (BSW) ein Plakat: „Wer Waffen schickt, will Krieg – sonst würde er Diplomaten senden.“ Dabei handelt es sich nach Nguyen-Kim um zwei falsche Dilemmas. Wer Waffen sendet, wolle nicht zwingend Krieg und die Lieferung von Waffen bedeute nicht, dass man keine Diplomaten senden könne, um Bemühungen für ein Ende eines Konfliktes voranzutreiben.
Persönliche Angriffe: Auf persönliche Angriffe ausweichen, um vom eigentlichen Problem abzulenken: So kritisierte Wolfgang Kubicki (FDP) die Corona-Maßnahmen von Karl Lauterbach folgendermaßen: „Isst kein Salz, isst keinen Zucker, trinkt keinen Alkohol, hat keine Freundin. Was hat er dann vom Leben?“
Strohmann: Es werden Menschen Aussagen in den Mund gelegt, die sie auf diese Art und Weise nicht gesagt haben. So reagiert Markus Söder (CSU) auf den Vorschlag von Cem Özdemir (Grüne), Werbung einzuschränken, die sich mit sehr zuckerhaltigen Lebensmitteln an Kinder wendet, mit folgendem Statement: „Haben die Grünen keine anderen Sorgen? Ob Kinder Süßigkeiten bekommen, sollten die Eltern und nicht ein Grüner Minister entscheiden.“
Motte & Bailey: Eine ursprünglich (extremere) getätigte Aussage wird bei Gegenwehr relativiert. So erklärt Friedrich Merz, dass er mit dem Begriff „Sozialtourismus“ im Zusammenhang mit Ukraine-Flüchtlingen keine Menschen persönlich angreifen, sondern „lediglich“ auf die Herausforderungen der Unterbringung und Betreuung jener Menschen hinweisen wollte.
Wir sind anfällig für Populismus
Im Folgenden geht Nguyen-Kim detaillierter auf Populismus und anti-demokratische Ideologie ein. Neben der Regierung als Feindbild geht die Wissenschaftsjournalistin auch darauf ein, dass das Gefühl einer „Wir-Gruppe“ (z.B. „Wir, das Volk“) gestärkt wird, indem andere Gruppen von diesem „Wir“ ausgeschlossen werden – zum Beispiel aufgrund anderer Herkunft, Religion oder Sexualität. Die Konsequenz ist ein undemokratisches Verhalten, das Grundwerte wie die Menschenwürde des Einzelnen betrifft. Grundwerte zählen in diesem Fall nicht mehr für alle gleich, sondern nur noch bevorzugt für die Mitglieder der eigenen Gruppe.
Außerdem ist es Nguyen-Kim wichtig zu betonen, dass Populismus unabhängig von politischer Gesinnung angewendet wird und seine Wirkung entfaltet. Allerdings, so Nguyen Kim weiter, obwohl man versucht habe, von allen politischen Richtungen versucht habe, Beispiele für Populismus zu finden: „Es wäre von False Balance, wenn wir so tun würden, als hätten wir überall gleich viel gefunden. Es gab einfach viel mehr populistische Rhetorik-Beispiele von rechts als aus allen anderen politischen Richtungen.“
Da es insbesondere bei rechten Ideologien darum gehe, andere Menschen von der „Wir-Gruppe auszuschließen“, indem Populismus verwendet wird, sei es umso schädlicher, wenn sich linke, liberale oder konservative Stimmen ebenjener Werkezeuge bedienen.
Zum Ende hin löst Nguyen-Kim auf, im zu Beginn dieses Artikels thematisierten Videos selbst Populismus verwendet zu haben. Sie argumentiert damit zeigen zu wollen, wie „anfällig wir alle für Populismus sind“. Populismus falle nicht so auf, wenn er Haltungen unterstützt, die man selbst ebenfalls vertritt.
Über die Verteidigung der Demokratie
Nguyen-Kim schließt damit, dass sie glaube, falls es so etwas wie eine „schweigende Mehrheit“ überhaupt gebe, handle es sich dabei um „nicht-extreme Menschen“, die einfach zu „langweilig“ seien, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Während im Hintergrund nun Bilder der jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus laufen, erklärt Nguyen Kim weiter, dass es deswegen umso besser sei, dass diese „schweigende Mehrheit“ dann auf die Straße gehe, wenn es darum ginge, die Demokratie zu verteidigen. Diese nun „nicht-schweigende Mehrheit“ müsse sich nun weiter sichtbar machen.
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Bildquelle: hoch3media (Unsplash), CC0-Lizenz