Radikale Ehrlichkeit? Darum sind Lügen legitim

Dass Lügen an sich nichts Gutes sind, lernen wir bereits im Kindergarten. Und auch im späteren Leben zahlt sich Ehrlichkeit meist aus. Dennoch können wir laut dem Sozialpsychologen Marc-André Reinhart nicht alle Unwahrheiten über einen Kamm scheren. So unterscheidet er beispielsweise zwischen guten und schlechten Lügen. Schlechte Lügen beziehen sich dabei auf bewusste Falschaussagen, die man benutzt, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Zu den guten Lügen hingegen zählen weniger problematische Äußerungen, die meist keine weiteren Auswirkungen haben. Oftmals dienen sie in einer Situation dazu, die Stimmung zu wahren oder dem Gegenüber ein besseres Gefühl zu geben. Auch kleinere Notlügen zählen dazu. In dieser Hinsicht stellt sich daher die Frage, ob Lügen unseren Alltag dann nicht sogar ein kleines Stückchen leichter machen.

Schweigen ist Gold

Für die radikale Ehrlichkeit spielt jedoch nicht nur direkte Offenheit in Gesprächen eine Rolle. Auch die eigenen Gedanken sollen spontan und ungefiltert ausgesprochen werden. Empfindet man die neuen Schuhe des Kollegen also eher als unschön, wird dieser auch prompt bei der Begrüßung darauf angesprochen. Genau an dieser Stelle scheint allerdings auch die Grenze der Alltagstauglichkeit erreicht zu sein. Wo kämen wir denn schließlich hin, wenn jeder unzensiert alle seine Gedanken offenlegen würde? Nicht nur würden sich unsere Gespräche wohl ins schier Unermessliche ziehen. Auch unser Taktgefühl für zwischenmenschliche Kommunikation würde so schlichtweg über Bord geworfen. Manchmal ist es also doch besser, einfach mal nichts zu sagen. Und wieso sollten wir gleich lügen, bloß weil wir nicht alles aussprechen, was uns gerade in den Kopf kommt?

Dass Lügen nicht per se etwas Schlechtes sind und uns zu viel Ehrlichkeit also nicht unbedingt guttut, ist klar. Jedoch sei ebenfalls dahingestellt, ob man bei der nächsten Familienfeier überschwänglich den trockenen Kuchen loben sollte, welchen man gerade mit dem dritten Glas Wasser herunterspült.

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Bildquelle: Alex Shute via Unsplash; CC0-Lizenz