Elena hat sich das Laufen wieder selbst beigebracht

Reportage: Elena, das Stehaufmännchen

 „Gleich am ersten Tag wurde mir Nervenwasser entnommen“, erzählt Elena. Dafür sollte ihr eine Spritze in den Rücken gegeben werden. Wegen ihrer Schmerzen konnte sie sich jedoch nicht nach vorne beugen. „Die Ärztin war wirklich sauer auf mich. So, als ob es meine Schuld wäre, dass ich mich nicht bewegen konnte. Sie hat das Ganze dann einfach abgebrochen“, erzählt sie. Erst auf Drängen Elenas Mutter hin hat die Ärztin die Nervenwasserentnahme dann doch durchgeführt. Diesmal mit Vollnarkose. „Die Ärzte haben mit möglichen Diagnosen nur so um sich geworfen. Es war von Borreliose die Rede, dann von einem Tumor“, erzählt Elenas Mutter. „Das war wirklich unsensibel.“ Als alle Verdachte ausgeschlossen werden konnten, wurde Elena nach drei Tagen zu einer Orthopädin geschickt. „Neurologisch wurde ich gar nicht untersucht. Ein Pfleger hat mir gesagt, dass er denkt, dass nicht alles gemacht wird, was gemacht werden könnte. Ich habe mich sehr alleine gefühlt“, sagt Elena. Und dann fiel das Wort Schmerzverstärkungssyndrom. Das Schmerzverstärkungssyndrom ist eine Krankheit, bei der Patienten eine abnormale Schmerzempfindlichkeit entwickeln. Normale Empfindungen werden von dem Nervensystem fälschlicherweise als Schmerzsignale registriert. Ursachen sind oft psychologisch. Kurz gesagt: Die Schmerzen sind nicht real.

Ein Schlag für Elena. Rationalität war immer ihr Maßstab gewesen. Und sie sollte psychisch krank sein? Sich Schmerzen einbilden? Unvorstellbar. „Damit hatte ich echt zu kämpfen. Es hat mich verrückt gemacht. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden“, sagt Elena. Abgestempelt und missverstanden. Die psychisch Kranke eben.

Am Ende der ersten Woche in München hatte der Chefarzt der Rehaklinik einen neuen Verdacht: Eine Blockade im Iliosakralgelenk, der Verbindung zwischen Kreuz- und Darmbein. Er führte eine CT gesteuerte ISG-Infiltration durch. „Der Eingriff sollte eigentlich keine Schmerzen verursachen“, erzählt Elena und lacht trocken. „Ich habe die ganze Zeit geheult. Ich konnte nicht mehr.“ Der Arzt habe lange Nadeln ohne Betäubung durch den Rücken bis zu dem Gelenk gesteckt. „Man kommt da nur schwer hin“, sagt sie und schluckt. „Deswegen mussten sie die Nadeln die ganze Zeit rein- und wieder rausziehen.“ Nach dem Eingriff kam eine Schwester ins Zimmer. Sie sei erschrocken gewesen, als sie auf dem Tisch die verwendeten Utensilien gesehen habe. „Da habe ich schon ein richtig komisches Gefühl bekommen.“ Als Elena aufstehen wollte, knickte ihre komplette Hüfte weg. Es war, als ob sie nicht mehr zu ihrem Körper gehören würde. Der Arzt wusste nicht, woher das kommen könnte. Er nahm ihren Fuß, hob ihn in die Luft. Der Oberschenkelmuskel zitterte. Zitterte immer weiter, als der Arzt plötzlich am Bein zog. „Ich dachte mir in dem Moment, ich sterbe gleich.“ Das Bein war auf einmal schwer. Elena hat es nicht mehr gespürt, konnte es gar nicht mehr bewegen. Zusammengekrümmt lag sie in ihrem Krankenhausbett. Sie konnte sich nicht strecken, nicht einmal mehr umdrehen. „Meine Mutter und Tante konnten nicht mehr aufhören zu weinen. Mein Vater wäre fast in Ohnmacht gefallen, als er mich gesehen hat“, erzählt Elena. Dann war Wochenende und kein Arzt da. „Bis heute konnten wir mit keinem der Leute sprechen, die den Eingriff gemacht haben.“

Der psychische Problemfall

Elenas Freundinnen haben sie oft besucht. „Ich war geschockt“, erzählt Lisa. „Elena lag still auf einer Stelle, bewegen oder aufrichten konnte sie sich nicht“, erinnert sie sich. Ihre Freundinnen saßen in einem Kreis um Elenas Bett. Auf ihrem Nachttisch stapelten sich Süßigkeiten und Zeitschriften. Elena war blass, ihre Augen ganz klein. Die Locken waren zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden. „In der Schule schreiben wir gerade Essays“, hatte Steffi, eine der anderen Freundinnen, ihr damals erzählt. Sie holte ein zerknittertes Papier aus ihrer Tasche. „Da war ein so schlimmer dabei.“ Lachend begann sie den Text vorzulesen. Die Mädchen versuchten Elena das Gefühl zu geben, bei allem dabei zu sein und nichts zu verpassen. Sie lachten und kicherten, vergaßen die Situation für wenige Minuten. Bis Elena auf die Toilette musste. Ihr Vater griff ihr unter die Arme, zog sie nach oben. Elena atmete scharf ein, die Augen waren zusammengekniffen. Sie saß auf der Bettkante und brauchte eine Pause. „Okay“, sagte sie. „Weiter geht’s.“ Ihr Vater stützte sie. „Normalerweise ist Elena die Person, die allen hilft“, erzählt Steffi. „Ich kannte es nicht, dass sie auf Hilfe angewiesen ist.“

Ein paar Tage später wurde Elena zu einer Psychologin geschickt. „Keiner der Ärzte wusste mehr weiter. Das war ihr letzter Ausweg.“ Obwohl Elena große Schmerzen hatte, bestand die Psychologin darauf, das Gespräch nicht im Krankenbett zu führen. Elena saß auf einem hölzernen Kinderstuhl. Um sie herum lagen Spielsachen und Bauklötze. „Ich hatte Tränen in den Augen – vor Wut. Die hatte davor schon ein Bild in ihrem Kopf und mir alle Worte im Mund verdreht. So, dass sie zu ihrer Vorstellung von mir passten.“ Eine Freundin von Elenas Mutter war gerade zu Besuch. Sie brachte ihr ein Kissen, damit sie bequemer sitzen konnte. Die Psychologin musterte die Situation kritisch. Später schrieb sie in ihr Gutachten, dass Elena wie ein Kleinkind behandelt werde und das für ihren Charakter nicht gut sei. Elena erzählte der Psychologin von ihren Freundinnen und davon wie traurig sie sei, gerade nicht bei ihnen sein zu können. Die Psychologin nickte. Im Gutachten las Elena dann: „Die Patientin äußerte keinerlei Wünsche, ihre Freunde zu sehen.“ Sie beschrieb Elena als einen psychischen Problemfall. „Ich habe mir fest vorgenommen, irgendwann noch einmal mit dieser Frau zu sprechen und sie zur Rede zu stellen.“ Als sie davon erzählt, sammeln sich Tränen in ihren Augenwinkeln. Denn die offizielle Diagnose lautete jetzt Schmerzverstärkungssyndrom.