Timo, 27, ist immer noch Jungfrau

Timo, 27, ist immer noch Jungfrau

Als ich 16 Jahre alt war, war es Dauerthema: Meine Freundinnen und ich wollten endlich unser erstes Mal erleben. Abend für Abend lagen wir bei einer von uns auf dem Bett rum und zerbrachen uns den Kopf, wann und mit wem es passieren könnte. Wir alle wollten es mit unserem ersten Freund erleben, romantisch und zärtlich, so wie wir das aus den Bravo-Lovestorys kannten. Je mehr die Anzahl an Jungfrauen unter uns sank, desto größer wurde der psychische Druck. Aber spätestens mit 18 Jahren hatten wir es dann alle geschafft: Wir waren entjungfert.

Im Nachhinein erscheint mir unser Stress lächerlich. In Wirklichkeit waren wir doch alle auch als 18-Jährige noch superjung, obwohl wir dann manchmal schon das Gefühl hatten, jetzt sei unsere Jugend vorbei und der Ernst des Lebens begänne. Dennoch ist es faszinierend, wie sich unsere Wahrnehmung im Allgemeinen ändern kann: Etwas, das einem zu einem gewissen Zeitpunkt im Leben wie ein gewaltiger Wendepunkt erscheint, wirkt im Rückblick peinlich banal. Rückblickend betrachtet, kann man höchstens noch über sich schmunzeln, viel mehr ist da nicht.

Was aber, wenn man mit 27 immer noch Jungfrau ist? Wie muss es sich anfühlen, wenn das Gefühl, das ich mit 17 Jahren hatte, mit 27 Jahren immer noch akut ist – und sich mit jedem zusätzlichen Jahr gesteigert hat?!

Wenn man die Ausnahme der Regel ist

In genau dieser Situation steckt mein guter Freund Timo*. In seinem Umfeld wissen nur seine nächsten Leute Bescheid. Es ist ja auch nicht etwas, von dem man ausgeht. Die Standardannahme ist, dass ein 27-Jähriger keine Jungfrau mehr ist.

Dabei ist das gar nicht so selbstverständlich, wie eine groß angelegte Studie von 2016 gezeigt hat: Von 16 000 Befragten Millennials der Jahrgänge 1989/90 gaben immerhin 13 Prozent an, noch nie Sex gehabt zu haben. Das heißt, jeder achte 26-Jährige ist laut dieser Studie noch Jungfrau.

Aber solche Zahlen helfen Timo nur bedingt dabei, sich besser zu fühlen: „In meinem ganzen Freundeskreis weiß ich von genau einem in meinem Alter, der auch noch Jungfrau ist. Aber der Vergleich kann mir eigentlich egal sein. Es geht einfach um mich und meinen Wunsch endlich Sex zu haben.“

Gutaussehend, talentiert und kommunikativ

Was lief bei Timo anders als bei den meisten von uns – das fragt er sich auch. Leute, die ihn nicht kennen, vermuten wohl am ehesten, dass das Problem bei ihm liegt: Er muss entweder sehr uninteressant oder sehr hässlich sein oder beides. Dem ist aber nicht so. Timo ist 1,80 Meter groß, drahtig aber nicht mager, hat blaue Augen, rotblonde Haare, Dreitagebart, markante Gesichtszüge. Ein kleiner Makel ist vielleicht sein schwindendes Kopfhaar, aber diesen Umstand versteckt er gut und gern unter einem Cap. Und es ist ja nicht so, als ob er der einzige Mann wäre, der mit diesem Phänomen zu kämpfen hat.

Auch was seine Person betrifft, ist Timo alles andere als ein Langweiler, der jeden Abend zu Hause auf der Couch abhängt und Chips schaufelt. Timo spielt Tennis, ist Segellehrer, nimmt schlagzeugspielend an Jam Sessions teil, schreibt Kurzgeschichten, die er an öffentlichen Lesungen in kleinen Bars vorliest, liebt es Desserts zuzubereiten, hat Jura studiert und befindet sich nun gerade im Referendariat.

„Frauen kennenzulernen bereitet mir ja prinzipiell keine Mühe, im Gegenteil“, sagt Timo. Das stimmt: Er kommt schnell mit Menschen ins Gespräch. Wenn er sich wohl fühlt, reißt er einen Spruch nach dem anderen und bringt alle zum Lachen. Das war nicht immer so: „Vor meinem Erasmussemester vor 3 Jahren war ich furchtbar schüchtern. Dass es damals mit den Frauen nicht geklappt hat, wundert mich nicht.“

Friendzone forever

Jetzt ist das Problem aber ein ganz anderes: „Ich komme zwar schnell mit Frauen in Kontakt, aber ich lande immer in der Friendzone. Schon mehrmals habe ich eine Frau gedatet, nur um im Nachhinein zu erfahren, dass es für sie gar kein Date war, sondern nur ein Treffen mit einem Kumpel“. Autsch.

Ich habe Timo gefragt, ob er denn nicht einfach mal Tinder ausprobieren möchte. Dort kann man immerhin schnell und unmissverständlich klar machen, wenn man nicht an einer Freundschaft interessiert ist. Aber Timo meint: „Das bin einfach nicht ich. Ich will nicht mit irgendeiner Sex haben, sondern mit meiner zukünftigen Freundin. Denn noch mehr als mein erstes Mal wünsche ich mir ja meine erste Beziehung.“

Wenn ich ihn frage, was ihn denn eigentlich am meisten belastet, sagt er: „Angenommen ich habe dann endlich eine Freundin. Wird sie nicht total schockiert und abgeturnt sein, wenn sie erfährt, dass ich noch Jungfrau bin und null Erfahrungen habe?“

Eine Frau, die es wert ist, wird sich davon nicht abschrecken lassen, da bin ich mir sicher. Außerdem sind die Männer, die 50+ Bettgeschichten im Archiv haben, bekanntlich längst nicht die besten Liebhaber, sondern es sind wohl eher die, die schnell lernen und mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin offen kommunizieren. Aber das ist eine andere Story.

*Name von der Redaktion geändert

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Bildquelle: Photo by Seth Doyle on Unsplash unter CC0 Lizenz