Demenz: Wenn man sich selber vergisst.

Demenz: Die Nebenrolle im eigenen Leben

Wie spült man ab? Und wie benutzt man einen Herd? Die 75-jährige Katharina hat immer alles alleine gemacht, doch das geht nicht mehr: Denn Katharina vergisst. „Es ist trostlos“, erzählt ihre Tochter Daniela. Sie ist jetzt Mama und Katharina das Kind. Mitspielen wollen beide nicht.

Es riecht nach Urin und Rauch im Treppenhaus der alten Jugendstilvilla. Staub hat sich in den Flusen des blauen Teppichbodens verfangen. In der linken Hand trägt Daniela Einkäufe, mit der rechten klopft sie gegen die Haustür ihrer Mutter. Früher hätte Katharina die Tür aufgerissen und sich in ihren Worten überschlagen. Jetzt ist da Stille. Daniela wartet noch einen Moment und ruft: „Hallo, ich bin‘s!“ Katharina sitzt auf dem dunkelblauen Sofa im Wohnzimmer. An den hohen Wänden von Danielas Elternhaus hängen Bilder und Bücherregale. Darin verstauben Hermann Hesse, Thomas Mann und Franz Kafka. Auf dem Fußboden liegen zusammengeknüllte Küchentücher auf eingetrockneten Saftflecken. Wie man putzt, weiß Katharina nicht mehr. Sie hat die Lokalzeitung in der Hand und starrt mit leeren Augen auf die Zeitungsseite. Ihre grauen Haare stehen wirr vom Kopf ab. „Ich will meine Ruhe!“, keift sie.  Früher hörte Katharina den ganzen Tag Musik. Dazu mischte sich in regelmäßigen Abständen das Klingeln des Telefons. Katharinas Haus war offen für jeden. Fast jeden Freitag veranstaltete sie kleine Feste. Nachbarn, Künstler und Kollegen tranken zusammen Weißwein und philosophierten über das Leben. Daniela und ihr Zwillingsbruder Fabian wurden mit Partys groß. Später versammelten sich all ihre Freunde in dem großen Haus. „Bei uns war immer was los. Alle fanden unsere Mutter und ihre Villa irgendwie cool“, erzählt Daniela.

Katharina raschelt mit der Zeitung in der Hand. Sie liest die Wörter, ohne ihren Sinn zu verstehen. Aber wie man eine Zeitung liest – das ist eines der wenigen Dinge, die sie noch nicht vergessen hat.

Katharina hat hepatische Enzephalopathie: Demenz aufgrund einer Leberzirrhose. Stoffwechselgifte können von der Leber nicht mehr richtig abgebaut werden und schädigen so das Gehirn. Symptome sind starke Benommenheit, Sprachstörungen, Verwirrtheit, motorische Unsicherheit und Inkontinenz. Seit Katharina vor einem Jahr die Diagnose bekommen hat, kümmern sich Daniela und Fabian um alles.

Daniela geht wortlos in die Küche, um die Einkäufe einzuräumen. Der Geruch nach Urin verschärft sich. „Sie pinkelt immer neben das Klo und vergisst dann zu lüften“, erzählt Daniela. In der Spüle steht Geschirr, Suppenreste kleben in dem Topf auf dem Herd.

Katharina ist nur noch der Schatten ihrer selbst

Schlappen schlurfen über den dunklen Holzboden. Katharina kommt langsam in die Küche, Schritt für Schritt. Zu einem grau-geblümtem Shirt trägt sie nur eine Unterhose. Die Haut hängt schlaff an ihren dünnen Oberschenkeln. Katharina ist nur noch der Schatten ihrer selbst. Mode und gutes Aussehen waren ihr immer wichtig. Sie verbrachte viele Sommer in Italien. Katharina liebte den italienischen Stil, die Landschaft, die Sprache. In jedem Italienurlaub kaufte sie sich auf dem Wochenmarkt einen anderen bunten Hut. „Ich werde mich immer an ihre roten Stiefel und ihre unzähligen Hüte erinnern“, sagt Daniela.

Daniela räumt Joghurt, Actimel und Erdbeeren in den Kühlschrank. Viel mehr isst Katharina nicht mehr. „Was machst du da?“, blafft Katharina. „Ich brauche nichts.“ Ihre Stimme ist monoton, die Worte sind schleppend. „Mami, du musst doch etwas essen und trinken“, erwidert Daniela. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und schließt den Kühlschrank. Die restlichen Vorräte wird sie später im Gang verstecken. Sonst würde Katharina alles auf einmal nehmen. „Sie hat nach einer Minute wieder vergessen, dass sie schon etwas getrunken oder gegessen hat“, erzählt Daniela. Einen Augenblick später öffnet Katharina den Kühlschrank und macht große Augen. „Wo kommt das denn her? Hast du mir das mitgebracht?“, fragt sie und nimmt sich die Schachtel Erdbeeren. Sie schiebt sich eine Beere in den Mund, dann noch eine. „Du musst die erst waschen“, ermahnt sie Daniela. Katharina wird wütend. „Du und deine Haushaltstipps.“ Das Schlimmste für Katharina ist es, bevormundet oder bemuttert zu werden. Sie möchte autark sein.

„Das ist alles so skurril“

„Hast du auch eine Zeitung mitgebracht?“, fragt Katharina. „Ich habe heute noch keine gelesen.“ Dann geht sie zum Kühlschrank und öffnet ihn. „Wo kommt das denn alles her? Hast du mir das mitgebracht?“, fragt sie. Daniela nickt, sagt nichts. „In solchen Momenten wird mir die Krankheit meiner Mutter immer am meisten bewusst“, erzählt Daniela. „Dass sie nur eine Frage hat – das hätte es bis vor einem Jahr nicht gegeben.“

Als Daniela und ihre Familie das Haus früher betraten, stand Katharina oft schon an der Haustür. „Hallo, Herzchen“, rief sie ihren Enkelkindern zu. Sie redete über das Wetter, über Freunde, die sich geschieden hatten oder über Bekannte, die gestorben waren. „Schönes Kleid. Ist das neu?“, fragte Katharina ihre Tochter. Die Antwort wartete sie gar nicht ab, sondern lief in die Küche. „Ich habe heute eine andere Sahne als sonst“, rief sie. Sie eilte zurück. „Wollt ihr Hausschuhe?“, fragte sie im Gehen. „Ich habe Zwetschgendatschi gemacht“, fügte sie hinzu. Sie setzte sich an den großen Esstisch. „Mei. Wisst ihr, was ich heute in der Zeitung gelesen hab?“ fuhr sie fort. Sie begann zu erzählen, musste manchmal sogar nach Luft schnappen, um all ihre Worte in einem Satz unterbringen zu können.

Daniela verlässt die Küche und beginnt mit ihrer Haushaltstour durch die Zimmer. Es ist immer das Gleiche. „Fühlt sich an wie ein tägliches Déjà-vu“, erzählt sie. Daniela und Fabian kaufen ein, putzen, bezahlen die Rechnungen, baden Katharina und führen die immer gleichen Gespräche mit ihr. „Das ist alles so skurril. Ich fühle mich, als ob ich alles von außen betrachten würde“, meint Daniela.