Alleinsein Bedürfnis Fähigkeit

Von der Fähigkeit allein zu sein – und warum wir sie alle nötig haben

Du fliegst auf eine einsame Insel, welche drei Dinge würdest du mitnehmen? Während die einen jetzt wahrscheinlich fieberhaft überlegen, wie sie ihr Handy unsterblich machen oder welcher Instagram-Filter für Palmen am besten geht, und insgeheim beten, dass das – oh Schreck – kein One-Way-Ticket war, da rauscht bei anderen wiederum eine regelrechte Euphorie-Woge durch den Körper: Zeit für einen selbst, ohne Ablenkung und Gesellschaft, in vollkommener Stille? JACKPOT!!!

Ich zähle eindeutig zu Letzteren. Mein Herz schlägt automatisch höher, wenn ich an eine große Portion Me-Time denke, und es geht mir nur gut, wenn ich möglichst viel davon in meinen Alltag integrieren kann. Ja, ich hänge gerne ungestört meinen Gedanken nach und füttere die Gehirnzellen mit Solo-Input. Diese Zeit ist mir so wichtig, dass ich sie verteidige und da ganz klar Prioritäten setze. Weil ich sie nämlich brauche wie das Wasabi zum Sushi.

Wer sich darin wiedererkennt und die ganz große Liebe zum Alleinsein teilt, der muss keinen Psychotest in der Brigitte machen, der weiß wahrscheinlich auch so, dass er zu den 30-50% der Bevölkerung zählt, die eher introvertiert und somit gerne alleine sind. Natürlich ist damit nicht jeder Mensch, der Alleinsein knorke findet, gleich und ausschließlich introvertiert, aber wir reden hier nicht davon, nach einer stressigen Woche mal für ein paar Stunden auf der eigenen Couch zu surfen – wir reden von einem Bedürfnis und einer Fähigkeit, mit der nicht jeder Mensch sofort ausgestattet ist.

 

I got it from my…

 

Im Gespräch mit ZEITjUNG erklärt Organisations- und Sozialpsychologin Amelie Schomburg, dass der Grundstein fürs Alleinsein Können und Wollen einerseits und andererseits zu 40-50% erblich ist. Das zeigt sich bereits an Babies, die heftiger auf äußere Reize reagieren und daher weniger davon benötigen, und sich so eher zu introvertierten Menschen entwickeln. Andererseits lässt sich die Fähigkeit aber auch in der frühen Kindheit stimulieren. Dem Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott zufolge können Kinder lernen, alleine zu sein, wenn die Eltern zwar in der Nähe sind, diese sie aber nicht ständig bespaßen und umsorgen. Dadurch fühlen sie sich trotzdem sicher und empfinden auch später Alleinsein als vollkommen okay.

Mit dem Wunsch nach Rückzug steht man schon mal schnell im krassen Gegensatz zu Freunden, die das so gar nicht verstehen können und am liebsten immer entertaint werden. Die Wochenenden verplanen sie schon fünf Wochen im Voraus mit Verabredungen, Reisen und Aktivitäten. Und wenn sie ein Wochenende mal nichts machen, weil das Schicksal manchmal eben dazwischenfunkt, dann werden sie leicht depressiv. Alleinsein ist für sie schwierig, es ist eindeutig eine Belastung, die sie am liebsten schnell wieder loswerden.

 

Introvertiert oder Extrovertiert?

 

„Ob jemand Alleinsein als Last oder als Bedürfnis sieht, hat oft damit zu tun, wie extrovertiert oder introvertiert man ist“, erklärt Amelie Schomburg. Dabei spiele nicht unbedingt Schüchternheit eine Rolle, es sei vielmehr eine Frage der Energie. Extrovertierte holen sich ihre Energie über externe Anreize, z.B. andere Menschen, Musik oder Bewegung. Bei Introvertierten trifft das Gegenteil zu. „Sie ziehen Energie aus Ruhe und brauchen sehr viel weniger Stimulation. Diese wird oft anstrengend für sie.“ Zumindest bis zu einem bestimmten Grad, denn schließlich braucht jeder Mensch auch soziale Kontakte, um nicht zu vereinsamen.

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Wichtig ist: Man ist nicht immer zwangsläufig entweder/oder, man kann durchaus auch ein bisschen von beidem oder überwiegend eins sein, oder man passt sein Bedürfnis der Situation entsprechend an. Es gibt auch immer mal wieder Zeiten, in denen man Impulse unterdrückt, insbesondere zu Beginn einer neuen Phase wie dem Studium. Dann wollen wir einerseits so viel wie möglich erleben, ausprobieren und kennenlernen, und lassen uns andererseits auch mitreißen, aus Angst etwas zu verpassen.

 

Die Fähigkeit allein zu sein

 

Fakt ist jedoch, dass unser Alltag mit seiner ständigen Reizüberflutung das Alleinsein nicht gerade fördert, ganz im Gegenteil. Propagiert wird nämlich Kommunikation, Stimulation, Ablenkung. Let me entertain you, an jeder Ecke. Dabei ist Alleinsein eine Fähigkeit, die Stärke entwickelt und uns so im Leben weiterbringt – auch die eher Extrovertierten. Der Psychologe Anders Ericsson hat beispielsweise gezeigt, dass Studierende sich Kompetenzen besser und erfolgreicher aneignen, wenn sie alleine und nicht in der Gruppe lernen oder üben. Gerade im Job entwickelt man so neben Konzentration und der Fähigkeit zur Analyse auch Kreativität – und steigert seine Leistung. Davon können Einstein, Picasso und Spielberg als selbst ernannte Intros wohl ein Lied singen.

Mehr Zeit für uns selbst gibt uns die Möglichkeit, den Blick nach innen zu richten, wirklich mal nachzudenken, ohne uns von anderen und ihren Ansichten ablenken zu lassen. In ihrem Ted-Talk Die Macht der Introvertierten bringt Susan Cain (Autorin des Bestsellers Still – Die Kraft der Introvertierten) das auf den Punkt: „Selbst wenn es um scheinbar persönliche, instinktive Dinge geht, etwa zu wem man sich hingezogen fühlt, äfft man die Überzeugungen der Leute um einen herum nach, ohne zu erkennen, dass man das tut.“ Viele Köche können also nicht nur den Gedankenbrei, sondern auch das Liebesleben verderben.

Abgesehen davon hilft uns die Fähigkeit dabei, besonders schwierige Situationen in der Zukunft besser meistern und sie schneller überwinden zu können. Und diese erleben wir alle früher oder später mal, z.B. beim Umzug in eine fremde Stadt, dem Beginn einer neuen Lebensphase, nach einer Trennung oder dem Tod eines geliebten Menschen. Amelie Schomburg erklärt, dass „Ungeübte“ sich dann schnell einsam fühlen und Alleinsein als schmerzlich empfinden können. Der Körper sendet Stresssignale und kann irgendwann sogar unsere Gesundheit beeinträchtigen.

 

Blockflöte lernen war gestern

 

Aber kann man Alleinsein tatsächlich erlernen, so wie Radfahren, Lesen oder das unnütze Blockflötespielen in der Grundschule? Durchaus, meint die Organisations- und Sozialpsychologin. Sie rät allerdings als erstes dazu, Alleinsein positiv zu betrachten und nicht mit Einsamkeit zu verwechseln. „Alleinsein ist das Wissen und die Sicherheit, dass man zwar soziale Kontakte hat, trotzdem aber auch Zeit nur für sich verbringen kann.“

Einfacher gesagt als getan, wenn man an äußere Reize gewöhnt ist und die Stille plötzlich erdrückend laut wird. Da können auch schon mal Gedanken und Ängste hochkommen, die alles andere als charming sind. Doch dafür ist Alleinsein schließlich auch da. Und man lernt es eben nur, wenn man es tatsächlich auch ist und diesen Rückzug bewusst für sich nutzt, ohne Handy und Internet-Bespaßung. Das kann ein Spaziergang, ein paar Minuten Meditation – wahlweise auch einfach mal aus dem Fenster schauen und nichts machen –  oder ein Buch sein. Das kann aber auch genauso gut ein Hobby sein, das man nur für sich macht, ohne Partner und Freunde. Und nein, Netflixen gilt nicht!

Übung macht mal wieder den Meister, und Alleinsein ist eben nicht gleich Einsamkeit, sondern einfach eine Energiequelle, um den Akku wieder aufzuladen. Übrigens, wenn man das erst einmal kapiert, dann klingt introvertiert überhaupt nicht mehr so klischeelastig und negativ. Ich sehe mich nämlich nicht als verschlossen, distanziert und zugeknöpft– danke, Duden! Und mit anderen Menschen zu sprechen, so richtig von Angesicht zu Angesicht, das schaffe ich trotz meines Höhlendaseins auch noch ab und zu.

 

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Bildquelle: Amaury Salas via Unsplash CC0 Lizenz