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Gregor Hägele: „Man will seine Spucke nicht mehr schlucken“

In deinem aktuellen Song ANA geht es um die Kämpfe, die jeder individuell auszufechten hat – seien es Depressionen, Panikattacken oder ähnliches. ANA ist stark geprägt durch deine ehemalige Magersucht. Wie muss ich mir das vorstellen, wie beginnt diese Krankheit? Schleichend oder abrupt?  

Ich kann natürlich nur aus meiner Erfahrung sprechen. Bei mir war es auf jeden Fall ein schleichender Prozess. Ich war immer ein recht moppeliges Kind, was eigentlich aber kein Problem für mich war. Von außen kam jedoch ganz oft, dass ich doch abnehmen solle, ich sei zu dick…  

Dann kam Bestätigung, wenn man abgenommen hat – was eigentlich totaler Quatsch ist. Diese Bestätigung gibt einem aber Glücksgefühle – gerade als kleines Kind, damals war ich elf.  

Irgendwann schwingt es über von „Nimm mal ab“ zu „Pass mal auf“. Und ab da ist es aber schon eine psychische Krankheit, die dich komplett fesselt.  

Das ist total pervers, was dann passiert. Man denkt dann wirklich, die eigene Spucke oder Wasser haben Kalorien. Man will wirklich seine Spucke nicht mehr schlucken, weil man denkt, davon wird man dick.  

Meine Mutter hat mir damals dann Videos von anderen Jugendlichen gezeigt, weil man denkt, dass das eher Erwachsene, insbesondere Frauen haben. Aber das haben auch wahnsinnig viele Jugendliche und wahnsinnig viele Jungs im jugendlichen Alter. Und die Menschen in den Videos, die mir meine Mutter gezeigt hat, sind teilweise wirklich daran gestorben. Aber es hat mich einfach nicht interessiert. 

Man koppelt sich komplett von seinem sozialen Umfeld ab. Es kommt natürlich von außen auch erst einmal wahnsinnig viel Unverständnis und man ist nicht mehr man selbst. Die Krankheit nimmt dich voll ein. 

Und wie muss man sich das genau vorstellen? Der erste Tipp, der natürlich einfällt: Iss doch einfach was. Aber so einfach ist es eben doch nicht. Was passiert da im Kopf? Hat man überhaupt noch ein Hungergefühl?  

Das ist wahnsinnig kompliziert und macht einfach keinen Sinn. Für einen selbst ist Essen wirklich wie Gift. Man denkt, man wird dick und das sei wahnsinnig schlimm. Ich kenne die psychologischen Hintergründe nicht, aber vielleicht ist es, weil Menschen einen wegen seinem Aussehen runtergemacht haben.  

Was auch total pervers ist: Wenn man etwas isst, fühlt man sich, als hätte man sich selbst betrogen oder ins Bein geschossen.  

Und was hat dir geholfen, diese Krankheit schlussendlich zu besiegen?  

Was bei mir ein ganz großer Faktor war und ist, ist meine Mama. Sie war immer da und hat immer gepusht. Irgendwann kam ich mal zu ihr und habe gemeint: „Jetzt ist mir alles scheißegal. Ich will wieder leben.“ So blöd das klingt, aber ich war nicht mehr in der Schule, habe mich nicht mehr mit Freunden getroffen, war auf keinem Familienfest. Irgendwann kam der Punkt, an dem ich mich so abgekoppelt habe, dass ich einfach wieder ich selbst sein wollte.  

Und am Anfang ist das erst einmal ein Kampf – der Punkt, an dem man sich entscheiden muss und wirklich auf jede Konsequenz scheißt. Selbst wenn man ein 200-Kilo—Mensch werden würde, scheißegal.  

Ich weiß noch, wie ich mit Tränen in den Augen gegessen habe. Aber man muss dann durch dieses Tal. Da sind natürlich Leute, die einem Liebe und Kraft schenken, wahnsinnig viel wert.  

Was ich erschreckend finde: Viele Menschen wissen gar nicht, dass auch Männer bzw. Jungen Magersucht bekommen können.  

Ja, wobei das totaler Blödsinn ist. Das finde ich auch so verrückt. Wenn ich Leuten davon erzähle, wissen sie oft nicht, dass Jungs das auch haben. Aber die Krankheit ist geschlechtsunspezifisch, genau wie Depressionen. Man denkt ja auch oft, dass Männer eine harte Schale haben, an die nichts rankommt. Das ist totaler Bullshit.  

Ich glaube, dass auch über Magersucht bei Männern zu wenig geredet wird. Deswegen fand ich es umso wichtiger, den Song zu machen. Männer sind immer stark, als gäbe es da keine Selbstzweifel.  

Jetzt hast du ANA schon auf Konzerten gespielt, inzwischen ist er auch auf allen gängigen Streaming-Plattformen verfügbar: Gibt es irgendwelche Reaktionen, die dich besonders berührt haben? 

Nach einem Konzert auf dem ich ANA gespielt habe, ich war Vorband von Johannes Oerding, stand ich beim Merchandise-Stand – sei es für eine Umarmung oder ein Foto. Dann kam eine Frau auf mich zu, in etwa Mitte vierzig, mit ganz roten Augen. Sie wollte gar nicht groß eine Umarmung, sondern hatte nur die Frage, was denn der Hintergrund von ANA sei. Ich habe ihr erklärt, dass ANA für Anorexie nervosa steht, also Magersucht. Da hat sie direkt angefangen zu heulen und mir erklärt, dass auch ihre Tochter seit elf Jahren ANA kennt und sich bedankt, dass ich darauf aufmerksam mache.  

Und ich stand nur da und habe mir gedacht: Genau dafür mache ich es. Ein ganz krasser Moment.  

Damit sind wir am Ende dieses Interviews angelangt. Gibt es noch eine Anmerkung, die du gerne zum Schluss machen möchtest?  

Gerne, danke. Für alle Leute, die ANA hören, oder dieses Interview lesen und mit Betroffenen zu tun haben: Man muss das wirklich ernst nehmen und nicht dieses blöde Schönheitsideal verfolgen, das in den Sozialen Medien suggeriert wird. Das ist unfassbar gefährlich – gerade bei jungen Menschen. Wenn man in diese Krankheit reinrutscht, ist es absolut unschön für einen selbst und alle Menschen drumherum. Deswegen: Passt auf euch auf und sprecht miteinander, dass es gar nicht erst so weit kommt.  

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