Sommerzeit heißt Unsicherheit – und jetzt?
Der Sommer beginnt, Corona scheint vorüber, die Laune wird besser: Doch was für die einen Freiheit bedeutet, heißt für die anderen Druck.
Ich sitze auf der Terrasse und genieße die Sonne. Endlich wird es wärmer, denke ich mir. Gleichzeitig erwische ich mich dabei, wie ich prüfend meine Beine betrachte. Sind sie frisch rasiert? Meine Nägel lackiert? Und war das Kleid letztes Jahr nicht noch etwas weiter? Gedanken, die unnötig sind, keine Rolle spielen sollten. Gedanken, die ich mir trotzdem mache. Der Sommer macht alles leichter, das heißt es oft. Aber im Gepäck haben wir all unsere Unsicherheiten, die wir im Sommer nicht mehr so gut verstecken können.
Unsicherheiten – woher kommen die überhaupt?
Eine Ursache für Unsicherheiten kann die Angst vor Ablehnung sein. Viele Menschen machen ihre Handlungen in gewisser Weise abhängig von anderen Menschen: sie fragen sich, was ihr Gegenüber von ihnen denken könnte. Die Ablehnung empfinden viele Leute dabei als eine Art Todesurteil, als das Worst-Case-Szenario. Laut Psychologe Rolf Merkle liegen die Ursachen dabei oftmals in der Kindheit: denn da könnte eine elterliche Ablehnung etwas real Bedrohliches sein. Kinder sind auf ihre Eltern angewiesen und können ohne ihre Zuneigung nicht überleben.
Andere Gründe für Unsicherheiten sind ein mangelndes Selbstbewusstsein, die Angst zu versagen oder Stress. Aber auch traumatische Erfahrungen oder Depressionen können für Unsicherheiten verantwortlich sein.
Social Media – Motor der Unsicherheit
Neben diesen psychologischen Erklärungsansätzen spielen die sozialen Netzwerke eine gravierende Rolle. Die Schönheitsideale auf Instagram und Co. verändern den Bezug zum eigenen Körper und verzerren die Realität. Vor allem junge Menschen sind davon betroffen: 30 Prozent der Jugendlichen sind über ihr Äußeres besorgt, während 18 Prozent sich durch das Schönheitsideal unter Druck gesetzt fühlen. Filter und Photoshop lassen die Grenzen zwischen Sein und Schein verschwimmen. Falten und Pickel verschwinden, Brust und Lippen werden mehr. Die Medienpädagogin Rebecca Eschenbacher meint: „Also irgendwie schraubt das die Erwartungen so hoch, dass man da von der Realität nur noch enttäuscht sein kann.“
Und was sind die häufigsten Unsicherheiten?
Eine der häufigsten Unsicherheiten bezieht sich auf den Körper und das Aussehen. Sie ist geprägt von dem gesellschaftlichen Bild, das wir haben: Frauen sollten glatt rasiert sein, das macht sie feminin. Männer hingegen dürfen das nicht, denn sie sollen ja männlich sein. Und das heißt natürlich auch Muskeln zu haben.
Eine andere Unsicherheit, die ebenfalls eine große Rolle spielt, ist die soziale. Im Sommer wird das Leben schneller und die Geschwindigkeit nimmt zu. Es finden Partys statt und Festivals, alle haben ständig irgendetwas vor. Und wir beginnen uns zu vergleichen: ist mein Leben genauso interessant? Auf der anderen Seite fühlen sich viele Menschen dazu verpflichtet, überall dabei zu sein. Man will nichts verpassen, obwohl man heute vielleicht doch lieber einmal zuhause bleiben würde.
FOMO – Volkskrankheit der jungen Generation
Diese Angst, etwas zu verpassen, nennt sich „Fear of Missing Out“ (kurz FOMO). Unsichere Menschen sind besonders davon betroffen. Die Ursache: Social Media. Die Einsicht in den scheinbar perfekten Alltag anderer ist dafür verantwortlich, dass sich ein Gefühl des ständigen Verpassens einstellen kann. Die Fear of Missing Out kann zu Produktivitätsverlusten, Schlafstörungen und Selbstzweifeln führen.
Dagegen helfen können ganz bewusste Offline-Zeiten. Hilfreich kann es auch sein, die Push-Benachrichtigungen am Handy auszustellen oder Anwendungen wie Instagram in einen nicht sofort ersichtlichen Ordner zu packen. Es gibt sogar Apps, die die gesunde Handynutzung unterstützen. So zum Beispiel die App „Menthal“, die Wissenschaftler*innen der Uni Bonn entwickelten. Sie gibt Feedback zu Handyinteraktionen und Tipps für eine bessere Selbstkontrolle.
Am meisten gegen die Angst, etwas zu verpassen, hilft jedoch das Bewusstsein, dass das Gefühl ein subjektives ist. Zum einen sehen all die Aktivitäten auf den Bildern meistens nach mehr Spaß aus, als sie tatsächlich sind. Zum anderen ist die Zeit, die man alternativ verbringt, genauso wertvoll. Wer sagt denn, dass die anderen nicht den gemütlichen Abend zuhause verpassen? Und ganz wichtig: irgendwo nicht dabei zu sein, macht uns nicht weniger liebenswert oder interessant.
Und was mache ich gegen die anderen Unsicherheiten?
Es ist schwierig, einfach so mal eben selbstsicher zu sein. Vor allem, wenn diese Unsicherheiten tief verankert in unserer Gesellschaft sind. Das kann jedoch helfen:
- Worst-Case-Szenario
Hilfreich kann es sein, sich zu fragen: „Was ist das Schlimmste, was passieren könnte?“ Dass meine Kolleg*innen sehen, dass mein Kleid enger geworden ist? Dass meine Beine nicht rasiert sind? Und jetzt? Führen wir uns vor Augen, dass selbst das Worst-Case-Szenario letztendlich keine Bedeutung hat, sieht unsere Unsicherheit direkt ein bisschen weniger bedrohlich aus.
- Gesellschaftliche Zwänge
Es ist wichtig, dass uns klar wird, dass die meisten optischen Unsicherheiten gesellschaftlich konstruiert sind. Frauen sollen rasiert sein, denn alles andere sei ungepflegt. Aber so ist es nicht, es handelt sich um ein verzerrtes Bild der Realität, in der verschiedene Begriffe fälschlicherweise miteinander verknüpft werden. Körperbehaarung ist natürlich, genauso wie Dehnungsstreifen, Narben und schlaffe Haut.
- Mehr Realität auf Instagram
Es gibt auf Instagram immer mehr Menschen, die ihren natürlichen Körper zeigen und ihn präsentieren. Diese Profile sind ein wichtiges Gegengewicht zu der verzerrten Realität.
- Positive Menschen
Umgeben wir uns mit Menschen, die uns gut tun und ein positives Gefühl geben, merken wir selbst schnell, wie unwichtig unsere Gedanken doch gewesen sind. Der See ist genauso erfrischend, wenn wir drei Kilo mehr wiegen, der Grillabend macht genauso viel Spaß, wenn unsere Beine nicht rasiert sind und der Film zuhause tut uns gut, auch wenn unsere Freund*innen unterwegs sind. Umgeben wir uns mit den richtigen Menschen, werden sie uns auch gar nicht das Gefühl geben, etwas zu verpassen. Unser Wert wird daran nämlich nicht gemessen.
Leicht gesagt – leicht getan?
All das ist natürlich leicht so dahin gesagt. Phrasen, die wir irgendwie schon zu oft gehört haben. Aber letztendlich steckt viel mehr nicht dahinter, das habe ich in den letzten Jahren gemerkt. Selbstsicherer zu werden ist ein Prozess – ob ich je all meine Unsicherheiten ablegen kann, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: es macht mich traurig, wenn ich an meine Schulzeit denke, in der die Jungs mit Shirts ins Wasser gegangen sind, weil sie ihren Körper nicht zeigen wollten. Es macht mich traurig, wenn ich an die Dinge denke, die ich wegen meines Gedankenkarussells verpasst habe. Es macht mich traurig, dass wir uns so sehr von unseren Unsicherheiten bestimmen lassen. Und so lange das so ist, kann man diese Phrasen gar nicht oft genug hören.
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