Kein Heimweh

Weg von zu Hause und kein Heimweh – über Schuldgefühle gegenüber der Familie

Zum Erwachsenwerden gehört, dass man seine eigenen Entscheidungen treffen kann. Aber was, wenn man entscheidet, von zu Hause wegzugehen – und dann, schlimmer noch, nicht einmal Heimweh empfindet?

Unsere Eltern haben uns großgezogen. Sie haben uns zu den Menschen gemacht, die wir heute sind. Auch unsere Großeltern, Geschwister und jegliche andere Familienmitglieder waren teilweise an diesem Prozess beteiligt. Und dann irgendwann wird man 18, kann seine eigenen Entscheidungen treffen – und entscheidet, von zu Hause wegzugehen.

Vielleicht nicht unbedingt mit 18, aber vielleicht in all den schwierigen Selbstfindungsjahren, die auf die Zahl 18 folgen.

„Von zu Hause weggehen“ – das kann heißen, dass man dauerhaft in eine andere Stadt innerhalb Deutschlands zieht. Das kann heißen, dass man auswandert. Es kann auch heißen, dass man für einige Monate ins Ausland geht und nachher zurückkommt – wie in meinem Fall.

Und wenn man dann weg ist, gibt es zwei mögliche Extreme, was die eigene Gefühlslage über diesen Weggang betrifft: Entweder man wird vom Heimweh heimgesucht (Wortwitz, ahoi), oder man bleibt komplett davon verschont und empfindet uneingeschränkt Freude darüber, an dem Ort zu sein, an dem man jetzt eben ist.

Ich habe beides erlebt. Als ich mit 18 von zu Hause ausgezogen bin, habe ich das erste halbe Jahr über schreckliches Heimweh gehabt. Ich habe meinen damaligen Freund vermisst, meine ganze Familie vermisst, und ganz besonders meine Mama vermisst.

Irgendwann hat sich dieses Gefühl gelegt, ich bin in meiner neuen Stadt angekommen und mir ging es blendend. Von Heimweh keine Spur mehr. Ich glaube, dass dieser Umschwung für meine Familie teilweise schwer zu akzeptieren war. Sicher waren sie erleichtert darüber, dass ich kein so starkes Heimweh mehr empfinde und dass es mir wieder gut geht – aber dementsprechend seltener bin ich von da an übers Wochenende nach Hause gefahren. Ich bin nicht mehr zu allen Geburtstagen gekommen und habe seltener angerufen.

Und teilweise hatte ich dadurch das Gefühl, meiner Familie nicht genug zurückzugeben für das, was sie mir ermöglicht hat. Ich habe mich gefühlt, als würde ich das Geld nehmen, das mir in die Hand gedrückt wurde, und als würde ich mich mit diesem Geld vom Acker machen, ohne mich noch einmal umzudrehen und zumindest zu winken.

Ich hatte Schuldgefühle meiner Familie gegenüber – nicht, weil mir jemand gezielt dieses Gefühl vermittelt hat, sondern vor allem, weil ich selbst mir eingeredet habe, dass ich zu wenig anrufe und zu selten nach Hause komme, um alle zu besuchen.