Kein Heimweh

Weg von zu Hause und kein Heimweh – über Schuldgefühle gegenüber der Familie

Sicher wurde dieses Gefühl durch Nachfragen wie „Und wann kommst du uns mal wieder besuchen?“ oder „Wann bist du das nächste Mal hier?“ oder „An Tag X feiert Person Y Geburtstag, da bist du doch da, oder?“ bestärkt – aber ich bin mir sicher, dass nie die Absicht dahintergesteckt hat, mir dieses Gefühl zu vermitteln. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mit meiner Familie sehr großes Glück habe. Ich weiß aus meinem Freundeskreis, dass Familienmitglieder auch ganz anders reagieren und krasse Schuldgefühle hervorrufen können, wenn man sich eine Weile lang nicht blicken oder wenig von sich hören lässt.

In meinem Fall geht dieses Gefühl aber wirklich größtenteils von mir selbst aus. Vor einer Weile habe ich mich dann auf den Weg nach Lateinamerika gemacht, und hier reise ich nun herum – für knapp ein halbes Jahr, größtenteils in nicht ungefährlichen Ländern.

Mir ist bewusst, dass meine Familie sich um mich sorgt. Und jedes Mal, wenn ich mit jemandem aus meiner Familie telefoniere, wird mir das wieder schmerzlich bewusst. Wenn sie fragen, ob noch alles gut ist, ob ich schon Heimweh habe, ob ich Deutschland vermisse oder auch ob ich sie vermisse, spüre ich, dass sie mich vermissen und es ihnen am liebsten wäre, wenn ich sofort wiederkommen würde. Und ich merke, dass ein Teil in ihnen hofft, dass ich zumindest ein bisschen Heimweh habe.  

Und ich wünschte, ich könnte diese Fragen nach dem Heimweh oder nach dem Vermissen bejahen. Aber das kann ich nicht. Denn aktuell trifft für mich die zweite Option zu, die ich zu Beginn des Artikels erwähnt habe: Ich empfinde uneingeschränkt Freude darüber, dass ich gerade nicht zu Hause, sondern in Lateinamerika bin.

Ich glaube, dass viele junge Menschen, die auf welche Weise auch immer von zu Hause weggehen, ähnlich empfinden. Und ich glaube auch, dass viele junge Menschen deswegen gewissermaßen Schuldgefühle der Familie gegenüber empfinden – egal, ob diese einem tatsächlich Schuldgefühle einredet oder nicht.

In den Momenten, in denen man diese Schuldgefühle empfindet, hilft es meiner Erfahrung nach, sich vor Augen zu führen, dass die Frage, ob man Heimweh hat oder nicht, eigentlich wenig mit der Frage zu tun hat, ob es zu Hause schön ist oder nicht. Ob man Heimweh hat, hängt – so glaube ich – vielmehr damit zusammen, wie sicher man sich seiner selbst ist und wie gut einem der neue Ort gefällt. Denn wenn man gefestigt in seiner Persönlichkeit ist, kann man sich an den meisten Orten einleben und schnell dort Fuß fassen. Und wenn der neue Ort darüber hinaus noch unfassbar schön ist, geht das natürlich umso leichter von der Hand. Das Gefühl von Heimweh hat also eigentlich wenig mit dem eigenen Zuhause zu tun.

Genauso wie die Tatsache, dass du vielleicht niemanden vermisst, nichts damit zu tun hat, dass du deine Familie und die anderen an deinem Heimatort verbliebenen Personen nicht liebst. Vermissen ist ein starkes Gefühl. Und jemanden nicht zu vermissen, bedeutet nicht, dass man sich nicht freuen würde, die Person um sich zu haben, oder dass man sich nicht darauf freut, die entsprechenden Menschen wiederzusehen, wenn man zurück nach Hause kommt.

Es bedeutet nur, dass man an seinem neuen Ort in der Lage war und ist, neue Menschen kennenzulernen, die einem ein Gefühl vom Geborgenheit vermitteln. Und diese Fähigkeit zu haben, ist nichts, weswegen man Schuldgefühle empfinden muss – sondern etwas, worauf man stolz sein sollte und worauf auch die eigene Familie stolz sein kann.

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Bildquelle: Pexels, CC0-Lizenz