Durchgesuchtet: Das Hörbuch „Gelebt, erlebt, überlebt“

„Es gibt Nächte, in denen fällt es mir schwer, einzuschlafen.“ Mit diesem Satz beginnt das Hörbuch über Gertrude Pressburgers Leben, „Gelebt, erlebt, überlebt“. Die nächsten 370 Minuten erklären, warum. Welche Erinnerungen es sind, die die 90-Jährige Wienerin nachts um drei wachhalten. Sie erzählen eine berührende und zutiefst erschütternde Familiengeschichte. Und die Geschichte einer beeindruckenden Frau, die es nach 14 Monaten in Auschwitz und Gefangenschaft irgendwie geschafft hat, weiterzumachen. Vergessen hat sie nie. Auch wenn sie ihre Erlebnisse erst jetzt, Jahrzehnte später, in diesem (Hör-)Buch teilt, das sich gerade jeder junge Mensch dringend anhören sollte.

In Auschwitz sah sie ihre Familie das letzte Mal

Bekannt wurde Gertrude Pressburger 2016 in Österreich als „Frau Gertrude“, als sie sich in einem Video gegen Heinz-Christian Strache und Norbert Hofer, den Bundespräsidentschaftskandidaten der rechtspopulistischen FPÖ, aussprach.

Gut ein Jahr später erschien dann das (Hör-)buch „Gelebt, erlebt, überlebt“. Wie der Titel schon andeutet, macht es einen Rundumschlag: Es erzählt von Gertrude Pressburgers Leben vor, während, und nach dem Zweiten Weltkrieg. Sechs Jahre war sie mit ihrer Familie auf der Flucht, an Orten wie San Remo, Caprino, Zagreb oder Ljubliana, bevor sie 1944 in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Zwar sind Kinder wie auch die Eltern katholisch getauft, ihre Vorfahren aber waren jüdisch. Gertrude Pressburger war 16 Jahre alt, als sie in der Todesmaschinerie der Nazis ihre Mutter und ihre zwei jüngeren Brüder verlor. Auch ihren Vater, der vermutlich später in Gefangenschaft verstarb, sah sie am Ankunftstag in Auschwitz das letzte Mal.

Die Zärtlichkeit von Anne Frank, die Nüchternheit eines Gedächtnisprotokolls

Das Hörbuch beginnt mit einer Zärtlichkeit, die an die Tagebücher der Anne Frank erinnert. Mit Erzählungen aus einem Familienleben. Wie die junge Gertrude nach der Schule für ihren Bruder Heinzi raufen geht, weil er zu introvertiert ist und lieber zeichnet. Wie Gertrudes Vater den Kindern steinharte Obstknödel macht, weil er die Mengenangaben vertauscht. Wie Lumpi, der Kleinste in der Familie, mit Gertrude unter der Bettdecke kuschelt, obwohl sie Scharlach hat. Und wie ihre Mutter dann, 1937, beinahe von der gusseisernen Pfanne einer Nachbarin erschlagen wird, die sie im Garten nach ihr wirft. Während aber die berühmte Geschichte von Anne Frank vor den Brutalitäten des Konzentrationslagers aufhört, kann Gertrude Pressburger auch davon erzählen. Mit einer Nüchternheit und Entschiedenheit, die oft bis ins kleinste, unerträgliche Detail und so durch Mark und Bein geht.

Ein Blick in die Seele eines „Untermenschen“

Gertrude Pressburger gibt tiefe Einblicke in das Erlebte. Und den KZ-Häftlingen damit ein Gesicht. Sie erzählt davon, wie sie gedemütigt und gequält wird. Wie sie 14 Monate lang mit derselben, dreckigen Unterwäsche herumläuft. Wie die Braut eines KZ-Offiziers zu ihrem Hochzeitstag mit der Kutsche durch das Lager fährt, weil sie gerne „einen Blick auf uns ‚Untermenschen'“ werfen will. Wie sie dabei zuschaut, wie eine Gruppe von Bulgarinnen aus einem LKW in eine Grube geschüttet und bei lebendigem Leib verbrannt wird. Wie eine Gefangene die Gaskammern überlebt und unter dem Leichenberg hervorklettert.

Und auch, wie sie erfährt, dass ihre Familie in denselben Gaskammern umgebracht wurde. „‚Siehst du den Rauch dort drüben?‘ Zögerlich hebt sie die Hand und zeigt auf einen großen Schlot, der hinter den Baracken steht: ‚Die Menschen, die auf dem Lastwagen waren – sie sind alle schon vergast und verbrannt worden‘.“ Das erzählt ihr eine Mitgefangene.

Gertrude Pressburgers Geschichte ist Symbol und Mahnmal

Ihr zuzuhören, fällt oft schwer. Das Erzählte zu fassen und zu verarbeiten, ebenso. Es sind Geschichten wie die von Gertrude Pressburger, die ihre Erzähler überleben und uns ein Mahnmal sein sollten. Denn mittlerweile ist die Wienerin eine der Letzten, die sie in solch einem Detail und dieser Direktheit überhaupt noch erzählen können. Und obwohl es ihre individuelle Geschichte ist, steht sie sinnbildlich für die von Hunderttausenden von KZ-Häftlingen. Mit ihren Beschreibungen malt die 91-Jährige dabei so eindrückliche Bilder, wie sie die Nazizeit in uns heute kaum noch hervorrufen kann. Gerade in uns jungen Leuten. Zu weit ist es für uns schon weg, zeitlich wie auch von unserer Lebenswirklichkeit. Es scheint ja undenkbar, dass so etwas überhaupt noch einmal passieren kann.

Aber langsam, ganz langsam, verblassen diese Bilder eben. In unserem Parlament sitzen Menschen, die wieder bestimmte Gruppen und Minderheiten diskriminieren und ausgrenzen wollen. Die den Holocaust verleugnen. Das, was Gertrude Pressburger widerfahren ist.

Wir wissen heute nicht mehr, wie es ist, im Krieg zu leben. Wir wissen nicht, wie es ist, wenn im eigenen Land Menschen verfolgt und getötet werden, täglich und in einem undenkbar hohen Ausmaß. Gott sei Dank wissen wir es nicht. Aber wir sollten uns immer wieder die Erfahrungen von Menschen wie Gertrude Pressburger vor Augen führen. Damit wir dafür kämpfen, dass wir es selbst niemals erleben müssen. „Gelebt, erlebt, überlebt“ ist deshalb keineswegs eine leichte Lektüre. Aber eine unheimlich wertvolle.

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz