Männer, die auf Fernseher starren – Ein Selbstversuch mit Livestreams in Dating-Apps
Nach mehreren Monaten Single-Dasein habe ich den Schritt erneut gewagt. Dating hat wieder einen Platz auf meinem Smartphone bekommen. Um dann irgendwann wieder in meinem Leben stattzufinden. Da ich die Dating-App bereits vor ein paar Jahren mal installiert hatte, griff ich wieder zu LOVOO. Und dieses Mal sogar in der Premiumversion. Es sollte einfach einfach sein. Und LOVOO macht es mir in jeder Hinsicht einfach. Nach ein paar Stunden habe ich die ersten Likes, Matches und Icebreaker gesammelt, ohne etwas dafür zu tun.
Doch dieses Mal ist etwas anders. Und zwar nicht nur die Tatsache, dass ich mein „Ich lasse es auf mich zukommen“ auf die Frage „Und, was suchst du hier?“ ernst meine, anstatt nur scheinheilig zu antworten, um besonders locker und cool rüberzukommen. Weil ich vielleicht ein bisschen weniger naiv, tatsächlich lockerer und vermutlich einfach noch nicht wieder bereit für die nächste große Liebe bin. Ich entdecke auch noch etwas anderes Neues, nachdem ich selbst von meiner fehlenden Ernsthaftigkeit und dem aufkommenden Zynismus überrascht bin: den Livestream.
„Noch authentischer und vor allem unterhaltsam“
Da ich nicht komplett aus der Zeit gefallen bin, weiß ich, was ein Livestream ist. Der ein oder anderen Bloggerin schaue ich ab und zu auf Instagram dabei zu, ihrer fleißig fragenstellenden Community etwas in die Handykamera zu erzählen. Denn in den Livestreams können die Zuschauer interaktiv werden und kommentieren, was der Livestream-Veranstalter wiederum sofort lesen und beantworten kann. Dabei geht es um das noch authentischere Kennenlernen – fast, aber nur fast fühlt es sich so an, als würde man sich gerade im Café gegenüber sitzen – und um eine noch bessere Kommunikation mit mehreren Leuten auf einmal. Genauso funktioniert es auf LOVOO. Auf der offiziellen Website steht: „Mit der neuen LOVOO Live-Funktion wird Dating jetzt noch authentischer und vor allem unterhaltsam.“
Weil ich mir nicht vorstellen kann, wer dort was zu wem sagt, klicke ich mich rein. Und bin ab dem ersten Moment verstört. Mir schaut ein Gesicht entgegen oder eigentlich schaut es eher an mir vorbei. Der Mann, der sich da gerade selbst filmt, scheint Fußball zu schauen. Klar, Bayern spielt. Aber wozu dann der Livestream? So langsam trudeln die ersten Kommentare ein. Ich kann sie erst ab dem Moment verfolgen, zu dem ich einschalte. Einschalte ins Unterhaltungsprogramm, das mir gerade recht wenig Unterhaltung bietet. Denn der Typ antwortet sporadisch und kurz angebunden auf die Fragen und Aussagen seiner Zuschauerinnen und schweigt ansonsten. Er konzentriert sich entweder auf das Fußballspiel oder seine Frisur. Sollte er sich nicht von seiner besten und vor allem interessantesten Seite zeigen wollen?
Ich erschrecke über meine eigene Erwartung, unterhalten werden zu wollen. Aber ein Dialog möchte hier gar nicht entstehen. Wenn sich die eine Seite live in Farbe präsentiert und die andere in die Tasten haut und sich dabei hinter ihren Worten versteckt, entsteht sehr schnell die Erwartung unterhalten zu werden. Auf der einen Seite der Protagonist und auf der anderen Seite seine Zuschauer – das ergibt eine Atmosphäre, die ein persönliches Kennenlernen gar nicht zulässt. Auch ein Flirt zwischen zwei Personen findet hier nicht statt, denn sobald der Mann auf dem Bildschirm meine Frage beantwortet hat, richtet er sich schon an stella63 oder linaherzchen, die nach mir etwas schreiben.
Skepsis statt Sympathie
Wer jetzt denkt, dass aus so einem Livestream schnell auch eine andere Art von Livestream werden kann, in dem ein paar nackte Geschlechtsteile in die Kamera gehalten werden, täuscht sich. Die App nutzt maschinelles Lernen, um Unerwünschtes zu vermeiden. In jedem Stream steht die Meldung: „Live soll allen Spaß machen. Nacktbilder oder obszönes Verhalten führen deshalb zur Sperrung deines Accounts.“ Und das scheint zu funktionieren. In keinem Stream, in den ich mich einklinke, muss ich etwas sehen, was ich nicht sehen möchte.
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Mir leuchtet ein, dass mir die Bewegtbilder ein Stück Authentizität und vielleicht auch Zeit schenken. Aussehen, Stimme, Verhalten kann ich so abchecken, bevor ich einem Treffen zustimme, enttäuscht werde und Zeit verschwende. Doch bei all denen, die ich mir anschaue, stellt sich nicht Sympathie sondern eher Skepsis ein. Mit jemandem, der in eine Kamera schweigt oder von seinem Mittagessen erzählt, werde ich mich nicht treffen. Hätte ich denjenigen nur auf einem Bild gesehen, hätte ich ihm vielleicht eine Chance gegeben. Natürlich kann auch das Gegenteil der Fall sein. Doch ich bezweifle, dass das hier etwas mit authentischem Verhalten zu tun hat. Denn auch die anscheinend authentischen Bewegtbilder entsprechen sicher nicht der Realität.
Mit dem Singlesein Geld verdienen
Als ich allerdings bei einem Stream zuschaue, in dem mir ein Typ davon erzählt, welche Zusatzfunktionen die Streams mitbringen, falle ich fast vom Bett. Beim Zuschauen kann ich ihm virtuelle Geschenke schicken. Dafür muss ich meine Credits einlösen, die ich tagtäglich alleine durch meinen Login sammle. Darunter sind auch Diamanten. Wenn er Diamanten geschenkt bekommt, kann er die nicht etwa nur als virtuelle Währung in der App einlösen, sondern sich ausbezahlen lassen. Mit echtem Geld. 500.000 Diamanten ergeben etwa 1000 Euro. Ich falle vom Glauben ab. Ab jetzt können Nutzer auf LOVOO mit dem Singlesein Geld verdienen. Wer will da noch daten?
Virtuell ist nie authentisch
Wer den Glauben an moderne Romantik, Liebe und unsere Gesellschaft noch nicht aufgeben wollte, wird ihn jetzt womöglich verlieren. Auch wenn ich die App inzwischen eher semi-seriös nutze und nicht mehr davon ausgehe, dort die große Liebe zu finden, macht mir diese Entwicklung Angst. Da, wo sich Menschen kennenlernen wollen, sollte Geld keine Rolle spielen. Und erst recht nicht, wenn es dazu anleitet, alles nur noch virtuell stattfinden zu lassen. Nicht nur den ersten Kontakt, sondern auch das erste Date in der App zu erleben, macht die virtuelle Welt attraktiver als die echte. Dabei ist in einer App nichts wirklich authentisch. Bevor wir komplett in der digitalen Sphäre seines Smartphones leben, sollten wir uns die Situation noch einmal vor Augen halten: Jemand filmt sich beim Faulenzen, lässt sich dabei beobachten und dann dafür bezahlen. Eine Dating-App zieht Dating ins Absurde.
Dieses Unbehagen, was mich überkommt, während ich auf eine leere Couch starre, weil der Typ im Livestream kurz aufs Klo muss, überträgt sich auf meine Lust, kennenzulernen, zu flirten, zu daten. Sieht unsere Zukunft so aus? Bedeutet unsere Zukunft banale Gespräche über Handys, uninspirierte Kommentare von Zuschauern, nichtssagende Antworten von Filmenden und dazwischen jede Menge Platz für die Sucht nach Aufmerksamkeit und die Flucht aus der Langeweile? All das, worum es eigentlich geht, wird verdrängt vom Trend, virtuelle Authentizität – ein Gegensatz in sich – herzustellen. Auch wenn wir nicht davon ausgehen, den einen tollen Partner in einer App zu finden, wünschen wir uns doch insgeheim zumindest, überhaupt jemanden zu finden, den wir kennenlernen können.
Online-Dating als Sprungbrett
Was mich grundsätzlich stört, ist die Öffentlichkeit. Dass sich der Livestream wie eine Art Bühne nutzen lässt, auf der die Schauspieler ihr Geld verdienen und sich an der Begeisterung des Publikums aufgeilen. Noch dazu stehen viele der Möchtegern-Schauspieler zum ersten Mal vor einem Publikum und sind schlicht überfordert mit der Situation. Könnte ich in der App mit einem Mann, der mich interessiert, einen privaten Videochat starten, würde ich die Möglichkeit nutzen. In einem persönlicheren Raum ist auch mehr Platz für authentische Fragen, Antworten, Mimik und Gestik.
Ich will mein „Ich lasse es auf mich zukommen“ beibehalten und LOVOO weiterhin nutzen. Es macht mir Spaß, so einfach mit Männern in Kontakt treten zu können. Es macht mir Spaß, ein paar humorvolle Nachrichten auszutauschen, um dann irgendwann auf WhatsApp weiter zu schreiben und sich dann im Café zu treffen. Ich nutze die App als Quelle und Sprungbrett für Dates in der analogen Welt. Und deshalb lasse ich den Livestream Livestream sein. Aber wichtig ist, dass jeder seine eigene Art und Weise herausfindet, am Ende doch noch das Bedürfnis und die Sehnsucht nach Liebe erfüllen zu können.
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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz