Seitenwechsel: Marokko – das Wunderkind der WM

In seiner Kolumne Seitenwechsel betrachtet unser Autor Paul aus einer politischen und kulturellen Perspektive die aktuelle Welt des Sports. Er blickt dabei weit über die Faszination des reinen Wettkampfes hinaus: Vom kommerzialisierten Profisport, über ehrenamtliche Vereinsarbeit, bis hin zum Fußballstammtisch in der Kneipe zieht er Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Phänomene, geprägt von seinen eigenen Erfahrungen.

Große Turniere, seien es Weltmeisterschaften oder Europameisterschaften, liefern oft allgemeine Erkenntnisse über die jeweilige Sportart. Zum einen arbeiten die Sportler*innen maximal auf dieses Ziel hin, zum anderen stehen die Wettkämpfe im extremen Fokus der Öffentlichkeit. Und so lassen sich auch aus der am Sonntag endenden Fußball-Weltmeisterschaft sportliche Entwicklungen ablesen und allgemeine Erkenntnisse gewinnen.

Selbst beim reinen Betrachten der Ergebnisse wird eines schnell deutlich: Die Leistungsdichte der angetretenen Nationalmannschaften ist auffallend hoch. Mit Ausnahme des Gastgebers Katar war jede Mannschaft in der Lage ein Spiel zu gewinnen, auch als vermeintlicher Außenseiter. Kanonenfutter, wie es bei früheren Turnieren teilweise der Fall war, gibt es nicht mehr. Im Gegenteil: Die vermeintlichen Außenseiter sind teilweise erfolgreicher als ihre hoch gehandelten Konkurrenten. Die deutsche Nationalmannschaft konnte diese Entwicklung am eigenen Leib erfahren, als sie mit einer Niederlage gegen Japan letztlich schon in der Vorrunde aus dem Turnier ausschied.

Aber auch in anderen Gruppen sorgten einige Nationen für Überraschungen. Saudi-Arabien beispielsweise gewann gegen Argentinien um Weltstar Lionel Messi, Tunesien schlug Frankreich und Kamerun gewann gegen Brasilien. Für die wirkliche Sensation des Turniers aber sorgten die Marokkaner, die unter anderem mit Siegen gegen Belgien, Portugal und Spanien bis ins Halbfinale vordrangen. Doch wie gelangen dem Weltranglisten-22. diese nicht einmal unverdienten Erfolge?

Die individuelle Klasse der Fußballer ist es jedenfalls nicht. Zwar spielen alle Marokkaner in Europas Topligen, bis auf wenige Ausnahmen aber nicht in den absoluten Topvereinen. Wettgemacht wird das Ganze vor allem durch enormen Einsatzwillen. Als Zuschauer*in hat man den Eindruck, die „Löwen vom Atlas“ würden tatsächlich mehr als die viel zitierten 100% geben. Für sein Heimatland zu spielen, scheint in manchen Nationen dann doch eine höhere Bedeutung zu haben als in anderen. Zwar kann man sich darüber streiten, ob man anderen Nationen den Willen und die Mentalität absprechen sollte. Ganz offensichtlich aber sind die Marokkaner bei diesem Turnier körperlich bis an ihre Grenze gegangen.

Das haben andere Außenseiter vor ihnen auch schon getan, da hat es oft aber nicht gereicht. Die Marokkaner, und das macht den Einsatz und Willen erst nützlich, verstehen es, ihre Energie sinnvoll einzusetzen. Taktisch hervorragend eingestellt können die einzelnen Spieler ihre Intensität perfekt auf den Platz bringen und verwickeln ihre höher veranlagten Gegenspieler konsequent in direkte Zweikämpfe. Solide fußballerische und taktische Grundausbildung gepaart mit voller Einsatzbereitschaft und dem Rückhalt einer ganzen Nation, wenn nicht sogar eines Kontinents, spielten sich die Marokkaner von Spiel zu Spiel in einen Rausch. Sie wuchsen über sich und die allgemeinen Erwartungen hinaus und wurden die begeisternde Sensation der Weltmeisterschaft – und ein Highlight des ansonsten in vielerlei Hinsicht so ernüchternden Turniers in Katar. Denn es führt dem Fußballfan vor Augen, warum er sich einmal in den Sport verliebt hat.

Nämlich, dass man – so abgedroschen es auch klingt – als funktionierende Mannschaft (fast) alles erreichen kann. Und dass vor allem der Einsatz und die Teamfähigkeit entscheidend sind und im Zweifel die geringeren Qualitäten der Einzelspieler wettmachen können. Für nahezu jede Sensation und Überraschung ist das die Basis, egal ob in der Kreisliga oder eben im Viertelfinale der WM. Und das macht jedes Fußballspiel so spannend. Zwar gibt es oft einen berechtigten Favoriten und einen Außenseiter. Im Team aber können immer wieder Sensationen erreicht werden, die man sich nicht hat träumen lassen. Der Auftritt der marokkanischen Fußballer bei dieser WM war dafür sinnbildlich.  

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Bildquelle: Julius Holstein auf pexels; CCO-Lizenz