Wind

Das Leben mit Anfang 30: Von Veränderung und prekären Lebenslagen

Von Kathrin Reikowski

Beiläufig und ungefragt servierte uns ein Dozent in einem Ethnologieseminar eine Prognose, die ich damals unverschämt fand. Er sagte: „Hier sprechen wir von prekären Lebensverhältnissen, in denen sich übrigens die meisten von euch nach der Uni auch wiederfinden werden…“ Unsere Zukunft, eine Ansammlung von schlecht bezahlten, projektbasierten Jobs, Selbstausbeutung und Planungsunsicherheit? Acht Jahre, zwei Kinder und zwei Teilzeitjobs später kommt mir jener Nebensatz immer wieder in den Sinn: Ich bin arbeitslos gemeldet und mache mich selbstständig. Und sehe plötzlich, dass sich kaum einer meiner Freunde von damals bereits irgendwo „angekommen“ und „abgesichert“ fühlt. Ja, wir wussten, dass wir als Kultur- und Sozialwissenschaftler nicht ewig in dem einen, perfekten Job arbeiten würden. Aber der „Wind of Change“ weht uns mit Anfang und Mitte 30 eisiger um die Ohren als noch mit Mitte 20. Das Gefühl der großen Freiheit ist definitiv weg, die Romantik eines Neuanfangs ist raus. Viele Weichen sind bereits gestellt. Nicht mehr alles ist möglich, aber viel mehr muss. Äh, ja, man könnte das als prekär bezeichnen.

Wie sind wir hierher gekommen? Wie geht es uns mit Veränderungen? Kann man mit 30 bereits Entscheidungen bereuen, weil sie etwas unwiederbringlich verlorengehen ließen? Was wäre wohl heute, hätte ich damals bloß… ? Ich teile diese Gedanken mit Freunden und stelle ihnen in einer spontanen Miniumfrage via WhatsApp vor allem diese Frage: Was würdet ihr eurem jüngeren Ich aus heutiger Sicht gerne raten?

 

Kurze Zeitreise

 

Sieben Jahre zurück, ein Abend an der Isar. Wir feierten (hach, damals!) unsere bestandenen Prüfungen, irgendwer summte „Wind of Change“. Und dieses Lied passte. Uns wehte eine Ahnung von Veränderung wie ein leichter Windhauch aus einer fernen, großen Zukunft um Ohren und Nase. Wir hatten etwas in der Tasche, das zählte, unsere Welt war in Bewegung geraten. Wir wollten ins Ausland oder einen guten Job starten, die Welt ein Stück weit besser machen.

 

Und auf einmal ist alles anders

 

Jetzt habe ich eine Familie. Eine mittelgut versicherte Familie in einer Mietwohnung, mit zu klein gewordenen Kinderschuhen, anstehenden Klassenfahrten und sozialen Verpflichtungen. Das heißt, ich brauche Geld. Und ein bisschen Planungssicherheit gegen Sorgen und mütterliche Gereiztheit. Meine Freunde sind in alle Winde verstreut. Nicht jeder von ihnen sieht seine aktuell anstehende Veränderung als Krise oder prekäre Lage. Doch da ist zum Beispiel Ann: Sie absolvierte ein Volontariat im Museum, ein Praktikum, ein Fernstudium parallel zum ersten Job und fand durch ein Ehrenamt zu ihrem heutigen „Traumjob“ in einer NGO. Trotzdem herrscht Krise, weil von ihr permanent mehr Engagement erwartet wird, als sie leisten kann. Und da ist Anette, die nach einem befristeten Job zwei miese Stellen erwischte. Sie schleppte sich tagsüber durch und bewarb sich abends parallel solange weiter, bis ihr Körper streikte. Es folgte ein Auflösungsvertrag. Jetzt bewirbt sie sich wieder, macht sich „employable“ für den nächsten Arbeitgeber, wahrscheinlich wieder ein Start-Up. Rückblickend hätte sie ihr erstes Jobangebot lieber nicht sofort angenommen (was sie tat, „weil es so toll nach Internationalität klang“), sondern eine karriereträchtige Stelle gesucht. Ähnlich denkt meine ehemalige Kollegin Veronika. Der erste Job stellt Weichen.