Frau zeigt zwei Mittelfinger in die Kamera

Cancel Culture: Darf man Menschen ausschließen?

Der Terminus Cancel Culture wurde von Rechts als Kampfbegriff gegen Links vereinnahmt. Aber ist die Cancel Culture wirklich so klar einer politischen Richtung zuzuordnen? Handelt es sich überhaupt um ein neues Phänomen? Und am wichtigsten: Gibt es Umstände, unter denen es legitim ist, Menschen und Meinungen vom Diskurs auszuschließen?

Der Begriff Cancel Culture bezeichnet den Trend, vor allem online bestimmte Personen, die diskriminierende Aussagen oder Handlungen getätigt haben, zu canceln – ihnen also ihre Reichweite zu entziehen, indem man ihnen beispielsweise entfolgt und damit einhergehend häufig öffentlich auf ihr Fehlverhalten aufmerksam macht. Wenn der Begriff Cancel Culture fällt, dann bezieht er sich im gängigen Narrativ häufig auf Linke, die all diejenigen mundtot machen wollen, die weniger politisch korrekt sind als sie selbst. Genutzt wird der Begriff im Gegenzug meist von Personen, die eben nichts auf politische Korrektheit geben.  

Menschen, die dazu aufrufen, bestimmte Personen zu canceln, argumentieren unter anderem, dass sich nie etwas am diskriminierenden Gedankengut einer Person verändert, wenn sie keinerlei Konsequenzen für ihr Fehlverhalten zu spüren bekommt. Soll heißen: Wenn beispielsweise ein*e Politiker*in, der*die eine sehr kontroverse oder auch diskriminierende Aussage getroffen hat, in eine Talkshow eingeladen wird, fühlt er*sie sich in seinem*ihrem Denken eher bestärkt und hat auch in Zukunft wenig Gründe, sich selbst zu hinterfragen. Damit einher geht die Angst, dass diskriminierendes Gedankengut für eine breitere Masse zugänglich gemacht werden und diese mit populistischer oder schlichtweg unsinniger Schwätzerei überzeugen könnte.

Allerdings bleibt zu fragen, ob sich diskriminierendes Gedankengut nicht auch immer weiter ausprägen könnte, wenn es vollkommen unter Verschluss gehalten wird. Jede*r Sozialwissenschaftler*in kennt die sogenannte Schweigespirale. Dabei handelt es sich um ein von der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann benanntes Phänomen, das – stark vereinfacht ausgedrückt – besagt, dass die Bereitschaft, seine Meinung zu äußern, äußerst gering ist, wenn man den Eindruck hat, dass man mit seiner Meinung Teil einer Minderheit ist. Dass eine Meinung nicht geäußert wird, bedeutet allerdings nicht, dass sie dadurch verschwindet. Im Gegenteil: Bei brisanten Themen kommt es vor, dass häufig sogar die Mehrheit schweigt, weil die wahrgenommene Mehrheitsmeinung sich von der tatsächlichen unterscheidet. So viel zu kommunikationswissenschaftlichen Theorien. Das bedeutet im Klartext, dass diskriminierende Meinungen vielleicht weniger geäußert werden, wenn besagte Personen den Eindruck haben, ihre Meinung nicht äußern zu dürfen – dafür gibt es aber nach jeder Wahl ein böses Erwachen, denn die ist schließlich frei und geheim, und diskriminierendes Gedankengut verschwindet eben nicht einfach dadurch, dass nicht darüber gesprochen wird.  

Nur Linke canceln – oder?

Was allerdings oft vergessen wird, ist, dass man das Spiel auch andersherum spielen kann. Denn das Phänomen, dass unliebsame Meinungen unsichtbar gemacht werden sollen, ist weder neu, noch ist es klar einer politischen Richtung zuzuordnen.

Wenn linke Student*innen mit ihren konservativen Familien am Mittagstisch sitzen und über Geflüchtete reden, sind sie demselben Phänomen ausgesetzt und werden genauso mundtot gemacht, wenn sie in der Unterzahl sind – mit dem Unterschied, dass dann niemand von Cancel Culture sprechen würde, weil der Begriff schließlich von eher konservativen oder gar rechten Gruppierungen in Bezug auf „die bösen Linken“ in Beschlag genommen wurde.

Und auch die Generalisierung in Bezug auf die ach-so-linken Medien, die jeden canceln, der nicht in ihre politisch korrekte Agenda passt, ist nicht besonders weit gedacht. Denn jedes Medium verfolgt eine gewisse politische Agenda und folgt somit einer gewissen Linie, von der es hier und da natürlich Abweichungen geben kann, die im Großen und Ganzen allerdings trotzdem dafür sorgt, dass sich jedes Medium zwangsläufig in einer gewissen Bubble bewegt. Bei der taz handelt es sich beispielsweise um eine eher linke, beim Cicero um eine eher rechte Bubble.