Frau zeigt zwei Mittelfinger in die Kamera

Cancel Culture: Darf man Menschen ausschließen?

Trotz aller Antipathie, die man gegenüber einer Person empfindet, gilt immer noch die Unschuldsvermutung. Man muss sich immer vor Augen führen, dass es zwar keinesfalls die Regel, sondern im Gegenteil eine absolute Ausnahme ist, dass (vermeintliche) Opfer lügen, aber dass die Möglichkeit eben dennoch besteht – und dass es gute Gründe dafür geben kann, wenn die beschuldigte Person in der Öffentlichkeit steht und vermutlich viel Geld auf dem Konto hat.  

Den Kenntnissen des Kriminologen Christian Pfeiffer zufolge sagen 80 Prozent der Frauen die Wahrheit, wenn sie angeben, vergewaltigt worden zu sein. Das heißt aber im Umkehrschluss auch, dass 20 Prozent eben nicht die Wahrheit sagen. Jeder Mensch, der vergewaltigt wird, ist einer zu viel. Aber genauso ist auch jeder Mensch, der zu Unrecht verurteilt oder dessen Ruf öffentlich zu Unrecht ruiniert wird, einer zu viel. Und man kann sich nie sicher sein, ob derjenige, der aktuell wegen einer Vergewaltigung im Zentrum der Öffentlichkeit steht, vielleicht einer derjenigen ist, die zu Unrecht gecancelt werden.

Menschen zu verurteilen, ist Sache der Gerichte und nicht Sache von Twitter-Communities. Man kann und sollte sich allerdings öffentlich für gesellschaftliche Aufklärung und Entstigmatisierung einsetzen, die es Opfern einer Vergewaltigung erleichtert, sich möglichst schnell bei entsprechenden Ärzt*innen sowie der Polizei zu melden und entsprechende Fälle zur Anzeige zu bringen. Man kann und sollte sich außerdem öffentlich dafür einsetzen, dass eine stärkere Sensibilisierung dafür stattfindet, dass im Bett nicht erst eine Grenze überschritten ist, wenn es tatsächlich zu einer Vergewaltigung kommt, sondern dass grenzwertiges Verhalten schon viel früher beginnt.

Und was, wenn die Wahrheit klar ist?

Anders verhält sich die Sache natürlich, wenn die Fakten tatsächlich feststehen. Gecancelt werden in erster Linie schließlich Menschen, die sich öffentlich diskriminierend äußern oder verhalten – so beispielsweise im Fall des Grünen-Politikers Boris Palmer, der in einem Tweet das N-Wort benutzte. Auch der Kontext machte das Verhalten Palmers nicht unbedingt besser, denn dieser bediente sich rassistischen Klischees, indem er dem bloßen Wort eine Anspielung auf die sexuelle Nötigung von Frauen durch schwarze Männer beifügte. In der Konsequenz leitete seine Partei ein Ausschlussverfahren gegen ihn ein.  

Der Unterschied besteht darin, dass es hier tatsächlich um eine mehr als kritische Aussage geht, von der belegt ist, dass sie von Palmer getroffen wurde. Die Gnadenlosigkeit der Cancel Culture dann als Rechtfertigung zu nutzen, um sich in der Opferrolle wähnen zu können, ist schwach – denn hier wird in keiner Weise reflektiert, dass nicht die Cancel Culture, sondern das eigene Fehlverhalten der eigentliche Grund für das Parteiausschlussverfahren ist.

Und das ist der Punkt: Häufig wird versucht, das eigene, diskriminierende Fehlverhalten zu überspielen, indem man emotional aufgeladene Reden über die Dreistigkeit der Cancel Culture schwingt.

Man kann darüber streiten, inwiefern es sinnvoll ist, in die Jahre gekommene Redensarten zu verbieten oder unliebsame Meinungen von vornherein vom Diskurs auszuschließen, anstatt sich auf eine Diskussion einzulassen. Sicher wäre es zumindest manchmal zielführender, wenn weniger vorschnell und emotional aufgeladen geurteilt und stattdessen häufiger rational miteinander gesprochen würde. Aber ebenso wenig zielführend wie das Fehlen eines rationalen Diskurses ist es, mit dem eigenen Verhalten Verstecken zu spielen, dabei blind für eventuelle Fehler zu sein und stattdessen alles auf eine sogenannte Cancel Culture zu schieben, die de facto weder neu noch politisch einseitig gerichtet ist.  

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