„False Balance“: Wenn Journalist*innen zwischen Meinung und Fakten stehen
„False Balance“ – zu deutsch „falsche Ausgewogenheit“ – ist ein Medienphänomen, das uns im Alltag begleitet, sobald wir Nachrichten konsumieren. Grundsätzlich steht dahinter eine mediale Verzerrung im Wissenschaftsjournalismus, bei der einer Minderheitsmeinung übermäßig viel Raum gegeben wird.
„False Balance“: Klimawandel
Guter Journalismus zeichnet sich durch Objektivität aus, sofern es sich nicht um eine Textart wie den Kommentar handelt, in dem Autor*innen bewusst ihre Meinung zu einem Thema wiedergeben. Um diese Vogelperspektive zu wahren, ist es üblich, dass Journalist*innen in einem Beitrag mindestens zwei sich unterscheidende Meinungen miteinbeziehen, damit sich Konsument*innen ein eigenes Bild der Lage machen können – ein wichtiger Grundpfeiler für das Funktionieren einer Demokratie. Gerade in einem wissenschaftlichen Kontext kann diese Gleichbehandlung zweier Meinungen aber schnell zu einem Problem werden.
Thema Klimawandel: Der Weltklimarat besteht aus renommierten Forschenden aus der ganzen Welt, welche regelmäßig ihre Erkenntnisse miteinander teilen und überprüfen. Somit gibt es wohl kaum eine seriösere Quelle was das Klima angeht. Und die Aussagen sind eindeutig: Der Klimawandel ist real und menschengemacht. Extremwetterlagen wie beispielsweise Hitzeperioden wie es sie dieses Jahr in Griechenland beziehungsweise der Türkei gab, oder Überschwemmungen wie in Deutschland, werden in Zukunft in ihrer Frequenz und Intensität weiter zunehmen, wenn nicht entgegengesteuert wird.
Wenn Journalist*innen diese Meinung, die von der Mehrheit der Wissenschaftler*innen unterstützt wird, in einem Beitrag gemeinsam mit einer*einem Wissenschaftler*in zeigen, die*der den menschengemachten Klimawandel leugnet, erscheinen beide Meinungen in einem gleichwertigen Kontext. Schnell kann der Eindruck bei Zuschauer*innen entstehen, dass der menschengemachte Klimawandel auch in der Wissenschaft nach wie vor heiß diskutiert wird.
Wie umgehen mit „False Balance“?
Diese Herausforderung der medialen Berichterstattung zeigt sich in einer Zeit der Pandemie besonders deutlich. Wie sollten Journalist*innen in einer Zeit arbeiten, in der wissenschaftliche Erkenntnisse sehr temporär sind und kontinuierlich an die Situation angepasst werden müssen? Wie umgehen mit tausenden Demonstrant*innen in deutschen Großstädten? In den Nachrichten totschweigen scheint kaum eine Option, wenngleich sie gegenüber der Million Menschen, die sich am gleichen Tag impfen lassen, verhältnismäßig eher eine kleine Gruppierung sind. Sie gleichwertig darzustellen, würde zum Phänomen der „False Balance“ führen.
Ein Problem sieht Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess im Interview mit deutschlandfunkkultur.de in der Art, wie über wissenschaftliche Erkenntnisse berichtet wird. „Das Problem ist, dass in vielen Köpfen eine falsche Vorstellung von Naturwissenschaften herumspukt: dass ,die Wissenschaft‘ ,die Wahrheit‘ über Corona liefern könne. Und dass das Bewusstsein, dass wissenschaftliche Ergebnisse überholbar sind, zu fehlen scheint.“
Und weiter: „Wenn wissenschaftliche Tatsachen unabhängig vom Kontext präsentiert werden, führt das zu einer Art Tatsachenfetischismus, der es dann leichter macht, eine Allianz mit dem Umlauf von Meinungen einzugehen.“ Konkret heißt es, dass der Unterschied von Meinungen und Tatsachen verwischt.
Aus diesem Grund sei es wichtig, dass „die Forschungsprozesse, die Begründungszusammenhänge, die Komplexität, auch die Selbstkritik von Wissenschaft, die Fragen, die Zweifel, das alles zu thematisieren und zu kommunizieren. Damit auch die Differenz zwischen irgendeiner Meinung, die sich nicht weiter begründen muss, und einer wissenschaftlichen Tatsache, die sehr komplexen Begründungszusammenhängen unterliegt, die der Tatsache vorausgegangen sind, klarzumachen.“
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Bildquelle: Markus Spiske (links) & National Cancer Institute (rechts) auf Unsplash