Fühlen

Hochsensibel: Warum fühle ich so viel?

„Festivals laugen mich aus.“

Eine, die von diesem besonderen Persönlichkeitsmerkmal ein Lied singen kann, ist Eva. Sie ist 32 Jahre alt und lebt mit Partner und Katze im Schwarzwald. „Mir war schon früh bewusst, dass ich ein bisschen anders funktioniere als der Rest meiner Familie“, erzählt sie mir in unserem Gespräch. Sie hält eine Tasse Tee in der Hand, durch die Laptopkamera kann ich das Wohnzimmer hinter ihr sehen. Es ist in hellen Tönen gehalten. Hier und da wächst eine Pflanze. Ich bin neidisch, einen grünen Daumen hatte ich noch nie. „Während meine Schwestern auf Festivals gingen, feierten und Jungs dateten, vergrub ich mich hinter meinen Büchern, lernte Querflöte und interessierte mich für Kunstgeschichte. Ich weiß, wie spießig das klingt“, sie lacht und schüttelt den Kopf. „Es ist auch nicht so, dass ich nicht versuchte mich wie ein ‚normaler‘ Teenager zu verhalten, aber Clubs überforderten mich. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine älteste Schwester mich mal mit auf eine Party nahm. Der Laden war voller Menschen und alle waren schon gut angetrunken. Ich bekam totale Beklemmungen und ließ mich von meinem Dad abholen. Das war richtig peinlich.“ Im Zuge ihres Psychologiestudiums hörte sie dann das erste Mal von Hochsensibilität. „Das hat mir sehr geholfen. Auf der einen Seite, weil ich dadurch wusste, dass ich nicht alleine bin. Auf der anderen Seite war es schön zu hören, dass ich nicht psychisch krank oder ‚schwach‘ bin, nur weil ich Dinge intensiver erlebe.“

Dass diese Fehlannahme für viele hochsensible Menschen ein großes Problem ist, wird im Laufe unseres Gespräches immer deutlicher. „Viele denken zunächst, dass mit ihnen etwas ‚falsch‘ ist und auch von außen wird dieses Gefühl verstärkt. Mir hat es sehr geholfen, mich mehr mit mir selbst und meinen Gefühlen zu befassen. Ich bin ja nicht kaputt, nur weil ich keine Horrorfilme sehen kann oder weil mich volle Innenstädte stressen. Ich brauche nur einfach mehr Ruhe als manch anderer und habe gelernt, besser auf mich zu hören.“ Ihr Freund – seines Zeichens Physiker – hat das mal folgendermaßen erklärt: „Gehen wir davon aus, dass dein Akku bei 100% steht. Jede soziale Interaktion, jeder starke Reiz leert deinen Akku ein Stück weit. Jetzt musst du einfach wissen, was du für dich tun kannst, damit du ihn wieder auflädst.“ In ihrem Fall sei das eben Wandern gehen oder Zeichnen bei ruhiger Musik.

Ob es denn auch schöne Seiten am HSPler-Dasein gibt, will ich von ihr wissen. „Aber klar! Als ich mich in meinen Freund verliebt habe, das war großartig. Wie ein Rausch. Außerdem bin ich sehr empathisch. Das kann zwar auch belastend sein, aber meistens empfinde ich die Empathie als großes Geschenk. Wenn meine Freundinnen etwas auf dem Herzen haben, kommen sie damit häufig zu mir. Wenn andere so auf deinen Rat vertrauen, das ist schon etwas Besonderes.“

Leben und leben lassen

Nachdem Eva ihre Hochsensibilität für sich akzeptiert hat, wurde ihr Leben erheblich leichter und sie kann heute von sich sagen, dass sie auch toleranter für die Macken anderer Menschen geworden ist. „Hochsensibilität ist eben auch nur ein Teil meiner Persönlichkeit. Ich habe gelernt mit ihr umzugehen, gebe ihr aber auch nicht zu viel Raum. Vielleicht muss man sie eher wie eine Art Warnleuchte verstehen, die immer dann angeht, wenn ich mich überfordere. Solange ich auf mich achte und nicht versuche mich zu verstellen, geht es mir super.“

Vielleicht ist das auch ein Learning, an dem wir uns alle mehr orientieren sollten. Denn so ein Akku, wie Evas Freund es beschrieb, haben wir doch alle irgendwie. Bei den einen leert es sich schneller und bei den anderen eben langsamer. Doch irgendwann ist keine Energie mehr übrig. Einen Zustand, den niemand gerne erreichen will.

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Bildquelle: Ron Lach von Pexels; CC0-Lizenz