Soziale Medien: Der Voyeur in jedem Einzelnen von uns

Der Blick ist getrübt, man sieht A. nur durch einen Schlitz zwischen den Lamellen. In dem Roman „La Jalousie“ von Alain Robbe Grillet beobachtet der Protagonist seine Frau. Er lauscht ihrem Atem, verfolgt jeden Schritt, jede Bewegung. Blickt durch Fenster, Türschlitze und durchsichtige Vorhänge. Das unbeobachtete Beobachten ist bereits in zahlreichen literarischen Werken verarbeitet worden. Das Interesse am Nachbarn, das Spitzeln durch die Thujenhecke – das gab es schon immer. Nur so leicht wie heute war es noch nie.

Spion zu sein ist heute leicht

Um jemanden zu beobachten, musste man sich früher eine Zeitung mit unverdächtigen Schlitzen besorgen, eine authentische Perücke und dann konnte man vielleicht, mit viel Glück, einen Blick auf das Objekt der Begierde erhaschen. Heute braucht man nicht viel Können, um jemanden bis ins letzte Detail auszukundschaften. Jeder hinterlässt seine digitalen Brotkrumen – en masse. Ob auf Instagram, Facebook oder LinkedIn – selbst für Menschen, die nicht sehr viel IT-Wissen beisitzen, ist es leicht, den Wohnort und Arbeitsplatz einer fremden Person herauszufinden. Meistens ist es auch nicht schwer, Freunde, frühere Partner, aktuelle Liebschaften, den Musikgeschmack und das bevorzugte Frühstücksmenü heraus zu suchen. Aber warum verfolgen wir das Leben von wildfremden Menschen? Und warum posten wir so intime Eindrücke aus unserem eigenen?

Manche Instagrammer kennt man besser, als die eigenen Freunde

Instagrammer und Influencerinnen tun meist nichts anderes als jeder normale Mensch – sie kochen, essen und treffen Freunde. Nur tun sie das auf so eine ästhetische Art und Weise, dass man gerne zusieht und sich mit in den Alltag einer vollkommen fremden Person nehmen lässt. Man weiß – vermeintlich – so gut wie alles über die Person. Man kennt ihren Tagesablauf, weiß, wie ihre Wohnung eingerichtet ist, welche Themen sie beschäftigen und mit welchen Menschen sie sich umgeben. Nur persönlich kennt man sich eben nicht. Wenn man sich auf der Straße treffen würde, wäre es nur ein einseitiges ‚Wiedersehen‘. Wir kennen den digitalen Auftritt der anderen Person – und sie kennt bestenfalls den unseren. Das Seltsame: Über den Alltag von manchen Instagrammern weiß man oft mehr, als über den seiner eigenen Freunde.

Weiß man, wie öffentlich öffentlich ist?

Natürlich kann man argumentieren, dass jeder nur das postet, was er auch für die Öffentlichkeit bestimmt sieht. Nur frage ich mich manchmal, ob man sich dessen wirklich bewusst ist. Natürlich weiß man, dass ein öffentliches Profil theoretisch jeder Mensch auf der Welt ansehen kann. Aber rechnet man damit, dass sich irgendwer außerhalb des eigenen Bekanntenkreises dafür interessiert? Wäre es nicht ein wenig seltsam, wenn alle Menschen, alle früheren Mathe-Lehrer, Verflossenen, der neue Chef, der Mann vom Gemüsestand am Hauptbahnhof, dein öffentlich geteiltes Leben ansehen könnten? Können sie ja, rein theoretisch. Die Meisten würden sich dennoch ertappt fühlen, als wäre etwas entdeckt worden, bei dem man sich aber ehrlich gesagt keine große Mühe gibt, es geheim zu halten. Und es ist normal, dass wir uns für Dinge interessieren, die man nicht wissen sollte oder die zumindest herausgefunden werden müssen. Jeder spielt gerne mal Sherlock Holmes. Natürlich könnte man auch seine Freunde fragen, was sie gerne zum Frühstück essen, nur meistens interessiert man sich nicht dafür. Bei Menschen vom anderen Ende der Welt, ist es plötzlich spannend.

Jeder ist neugierig, keiner gibt es zu

Es ist ein offenes Geheimnis, dass man manchmal Menschen auskundschaftet, bevor man sie überhaupt getroffen hat. Die neue Freundin vom besten Freund, die zukünftigen Arbeitskollegen. Niemand würde es zugeben oder beim ersten Treffen sagen: „Ich weiß, wo du zuletzt im Urlaub warst, was du studierst und dass du letzte Woche traurig über den Tod deines Goldhamsters warst. Achja, und möchtest du noch einen Cider, den trinkst du doch so gerne, nicht wahr?“ Obwohl wir Informationen einer so breiten Masse zugänglich machen, ist es den meisten doch unangenehm, darauf angesprochen zu werden. Genauso wäre es jedem unangenehm zuzugeben, dass man sich für diese Dinge interessiert hat. Man versteckt sich gerne hinter seiner digitalen Maske.

Instagram ist einfach moderne Kunst

Vermutlich ist die Frage, auf die es letztendlich hinausläuft, die nach dem Verhältnis von Wahrheit und Fiktion. Die komplette Kulturgeschichte besteht ja einzig und alleine daraus, dass der Mensch gerne Geschichten und Lebensläufe verfolgt, von Menschen, die er nicht kennt. Man leidet mit Effi Briest und fiebert mit Daenerys‘ Kämpfen mit. Man lässt sich trösten von Geschichten, die der eigenen ähnlich sind, inspirieren von Figuren, die wenig bis nichts mit einem selbst gemein haben. Nur eben mit dem kleinen Unterschied, dass diese in Kunst, Literatur und Film fiktiv sind. Oder dass es sich um wirklich öffentliche Gestalten, Politiker, Künstler, solchen Menschen, handelt. Menschen, die absolut wissentlich Inhalte veröffentlichen, und nicht durch Zufall hineinschlittern. Kein Mensch, der ein Buch oder Interview veröffentlicht, ist darüber verwundert, wenn es Menschen lesen. Von vielen Instagrammen oder YouTubern hört man dies hingegen öfter: „Man sei sich nicht darüber bewusst gewesen, was für eine Reichweite man damit habe.“ Der Account war unbewusst auf öffentlich eingestellt und, zack, ist man versehentlich berühmt. Weil Menschen gerne einen Blick durch das digitale Fenster auf fremde Frühstückstische werfen. Und da kommen wir an den Punkt, zu fragen, wie real die Welten sind, die man auf Instagram präsentiert und ob wir im Grunde nicht nur eine sehr realistische Inszenierung eines Lebens auf der anderen Seite der Welt verfolgen. Eine Form von Kunst, eine Geschichte, die soziale Medien und deren Akteure uns erzählen. Dann wäre das Beobachten von fremden Leben auch nur eine Art Kulturkonsum – irgendwie. Eine neue Kunstform, vielleicht.

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz