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Generation „Ich-will-mich-nicht-festlegen“: Die Konsequenzen, die wir tragen müssen

Ich stehe nichtsahnend in der Küche als meine Mitbewohnerin von draußen reingeschlichen kommt. Natürlich frage ich ganz routinemäßig „Na?“ – und bekomme zur Antwort ein tiefes Schluchzen zu hören. Tränen rinnen sofort übers Gesicht und mir bleibt nichts anderes übrig als sie in die Arme zu schließen: „Du kriegst jetzt erstmal ein Glas Wein“ (es ist 14 Uhr, aber wen stört das schon…). Dann erzählt sie alles: „Naja, das war wahrscheinlich erst mal das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, vielleicht sogar für immer…wenn ich jetzt in England bin, weiß ich ja nicht, ob das nach wie vor so ist wie jetzt.“ Die Rede ist von ihrer Affäre, Julio, dem Kerl, den sie seit ca. anderthalb Jahren mehrmals pro Woche sieht, mit Selbstgekochtem beglückt und mit dem sie natürlich jede Menge Sex hat. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung: Da ist er nämlich zu ihrem Geburtstag in ihre Heimat nach Stuttgart gekommen, um ihr zu sagen, dass er während seines Besuchs in seiner Heimat wieder mit seiner Ex-Freundin zusammen gekommen ist.

Der Monat Funkstille – vor dem sie sich nach sechs Monaten Dating Hoffnungen auf eine Beziehung gemacht hatte und irgendwie eben doch nicht – war gefüllt mit Tränen, Wut und dem unterdrückten Bedürfnis eben doch ans Telefon zu gehen wenn er anruft. Als letzteres schließlich siegt, sagt er, sie fehle ihm, ob sie nicht noch einmal miteinander reden könnten, er schulde ihr eine Erklärung. Die Erklärung mündet in Sex und ja, so geht die Affäre munter weiter – nur nicht mehr als etwas Unverbindliches mit Chancen auf mehr. Jetzt ist sie die „andere Frau“.

Kein Problem, sie findet sich damit ab und lacht sich nebenbei noch ein zweites mehr oder weniger Dauer-Date an, beide wissen natürlich nichts voneinander. Die Katastrophe kommt erst am Ende; in diesem Fall an dem ganz typischen letzten Abend, an dem sich sowieso immer alles anders anfühlt, der Abschied ständig im Raum steht und neben ihm Gefühlsduselei und „Was ich dir immer schon sagen wollte“ und „Weißt du noch“ und „Ach das ist doch alles scheiße“.

„Irgendwie ist das doch mehr zwischen uns geworden, ich hab Angst dass du nicht zurückkommst, dass es das hier gewesen sein soll.“ Sagt der Kerl (der immer noch eine Freundin hat, wohlgemerkt) zu Charlotte. Dass da jetzt doch irgendwie und irgendwo Gefühle für sie entstanden wären und dass es ja mehr sein könnte vielleicht, irgendwann. Und dass er ihr das Flugticket zahlt, wenn sie mal zu klamm ist um ihn zu besuchen – denn das machen gute Affären ja so – oder etwa nicht?

Diese zwei – Julio und Charlotte – sind so typisch für das, woran unsere Generation krankt. Denn nicht nur sind wir die Generation der arroganten Privilegierten, der Überforderten, der Selbstverwirklicher, der Ängstlichen, wir sind auch die Generation Dauer-Single, die, die sich nicht festlegen will.

 

 

Why’d you have to go and make things so complicated?

 

Julio lebt in München. Seine Freundin in Spanien, in seinem Heimatdorf in der Region Murcia. Sie sehen sich ca. vier Mal im Jahr, großes Interesse an seinem Leben in München scheint sie nicht zu haben, schließlich war sie noch nicht zu Besuch, zumindest seit dem er und Charlotte sich kennen. Er ist für den Job nach München gezogen, es läuft mal gut und dann wieder nicht. Aber viel Anschluss hat er nicht gefunden – dafür aber eine tolle Wohnung in Grünwald, die er erstaunlicherweise bezahlen kann. Charlotte lebt mit mir und drei anderen Mitbewohnern in Harlaching, studiert Modedesign und hat einen kleinen Hang zum Luxus, den sie so gerne leben würde aber eben während des Studiums nicht kann.
Julio ist – Achtung, Küchenpsychologie! – für sie der Zauber aus einer anderen Welt, für ihn ist Charlotte die Verbindung zu seiner nicht mehr ganz so neuen Stadt. Sie hübscht den Büro-Alltag auf, ist abends da wenn Pizza und Netflix mit der Freundin genau das richtige wären. Sie ist das heiße Date, was er am Wochenende mal schick ausführen kann. Und irgendwie zu seiner Beschäftigung, zu seinem Draht nach München geworden.
Seine Beziehung zu Hause, das ist ein On-Off Ding. Die beiden kennen sich seit dem sie 16 sind, waren immer mal zusammen und dann eben nicht mehr. Jetzt grade sind sie es wieder, aber wer weiß wie lange das hält? Zumal Julio eigentlich sehr freiheitsliebend ist. Sich festlegen, das ist nichts für ihn, selbst Charlotte sagt nach dem Glas Wein: „Ich glaube, selbst wenn er jetzt mit seiner Freundin Schluss machen würde, hätte ich Angst mit dem zusammen zu sein…ich mein der fühlt sich ja schon eingeengt von ihr, wenn sie ein paar tausend Kilometer auseinander leben. Wenn ich dann Beziehung sag bin ich wahrscheinlich plötzlich die betrogene Freundin.“

Und denk ich an Charlottes eigentliche Vorstellung von den nächsten paar Jahren – umherreisen, bei verschiedenen Designern Praktika machen, mal in New York, Mailand und Paris leben – fällt mir auf: Da passt so ein fester Partner auch nicht richtig rein.

Trotzdem will sie es definieren, den Beziehungsstatus klären, obwohl es da eigentlich nicht viel zu klären gibt. Wobei das „eigentlich“ hier eine ziemlich große Rolle spielt. Es bringt nämlich auf den Punkt, dass Julio eine Freundin hat, die ja eigentlich nicht die große Liebe sein kann und auch zukünftig keine Chance haben wird – welche On-Off-Beziehung hat jemals den Weg in eine dauerhafte, stetige Liebe gefunden? Und dass Charlotte ihm nun aber fehlen wird, wo sie weg ist. Eigentlich wäre das ganze Dilemma ganz einfach und logisch zu meistern: Schluss machen, mal sehen wie es weiter läuft – eben die Konsequenzen aus den Gefühlen ziehen statt sich und andere ständig selbst zu betrügen.
Denn das machen die beiden, dauerhaft.

 

Logical, oh responsible, practical

 

Ja, Liebe und Logik, das ist so eine Sache. Kann eh nicht funktionieren, sagen die einen. Liebe ist eine Entscheidung, sagen die anderen. Oder aber: Bindungen müssen immer von den Lebensumständen abhängig gemacht und in einem größeren Zusammenhang gesehen werden – in dem Team bin ich, denn ganz nüchtern betrachtet macht es für Charlotte grade auch absolut keinen Sinn, sich auf eine Beziehung einzulassen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie sich vermutlich nicht wohlfühlen würde damit, ihren frisch gebackenen Partner für ein Jahr alleine zu lassen wo sie ja weiß, dass er keine Skrupel hat was Affären angeht.
Sich zu binden wenn man eigentlich nicht bleiben will und auch mittelfristig keinen Zeitraum sieht, in dem beide für eine längere Zeit in ein und derselben Stadt sein werden – das ist nichts Erstrebenswertes, bringt am Ende nur verpatzte Skype-Dates, dramatische Telefonate, Tränen. Und immer wieder eingelegte Stopps in der ursprünglich mal gemeinsamen Stadt, vielleicht irgendwann gar die widerwillige Entscheidung sesshaft zu werden und die nächste Stelle im Ausland nicht anzutreten, weil das Fernsein voneinander einfach nervt. Kann es das sein, wenn der Lebenstraum eigentlich anders aussieht?

Nein, das kann es nicht: Hin und Her gezerrt sein zwischen Beziehung und Selbstverwirklichung, das muss ja zu Bindungsangst führen, logisch. Genauso aber der Versuch, sich immer alles offen zu halten. Sich nicht festlegen zu wollen ist ja kein exklusives Beziehungsphänomen. Auch das Studium und die Berufswahl sind davon betroffen denn wir haben alle so unendlich viele Möglichkeiten und Vorstellungen davon, was wir machen könnten. Die Interessen in ganz verschiedenen Bereichen führen zur Zerrissenheit des Selbst, denn Leidenschaft für nur eine Sache, echte Hingabe, dafür müssten wir ja andere Sachen zurückstellen. Statt eine Entscheidung zu fällen, eiern wir jahrelang herum, ohne zu wissen was wir wirklich wollen und wundern uns, wenn dann plötzlich die große 30 naht und uns begreiflich macht: Scheiße, ich hab noch nichts auf die Reihe bekommen. Dann folgt Panik, Ärger über die eigene Unentschlossenheit, lange verzweifelte Gespräche mit den Freunden und schließlich die Schönrederei: 40 ist die neue 30, wir haben so viel Zeit und können alles machen was wir wollen.

Es ist das Leben, was in der Zwischenzeit vorbei zieht. Klar, wir nehmen alles mit und stürzen uns zumindest oberflächlich in jedes neue Abenteuer. Aber wirklich realisieren was da passiert, es genießen und einmal ganz wertungsfrei erleben, das geht eben nicht während wir auf die große Berufung warten.

 

If there’s somebody calling me on – She’s the one

 

Was die Berufung für das Arbeitsleben ist, sowas soll es auch für die Liebe geben. Das ganz große Ding, was uns umhaut. Die eine, die Liebe auf den ersten Blick, über die er nach dem ersten Date ins Tagebuch schreibt: „I’m going to marry this girl, eventually.“ Vielleicht gibt es die, vielleicht aber auch nicht. Was wäre gewesen, wenn Jack, der Kopf hinter diesem unglaublich guten Video, sich gedacht hätte: „Man, die ganze Welt steht mir offen, wieso sollte ich Beth wählen? Ja, sie gefällt mir gut, aber da gibt’s noch was Besseres – vielleicht.“ Oder wenn Beth sich gedacht hätte: „Man, Jack ist schon wieder auf Reisen, ich sitze alleine hier, mir ist langweilig. Kann das die große Lieb sein?“ Richtig, dann wäre diese große romantische Sache den Bach runter gegangen. Aber Jack hat sich nach dem ersten Date entschieden. Er hat in sein Tagebuch geschrieben, dass er dieses Mädchen irgendwann heiraten wird. Er hat sich festgelegt.

Wahrscheinlich gab es dazwischen auch schlechte Zeiten. Ganz sicher sogar – in keiner Beziehung ist alles rosig. Trotzdem schaffen es Menschen, über 50 Jahre lang zusammen zu bleiben. Sie gehen damit Verbindlichkeiten und Kompromisse ein und haben sich schlichtweg füreinander entschieden. Vielleicht immer wieder, vielleicht aber auch nur einmal. Eine Beziehung ist eine Entscheidung. Eine Festlegung.

Wer jetzt denkt, dass früher „andere Zeiten“ waren und diese langen Beziehungen aus anderen Lebensumständen als den heutigen entstanden, der hat natürlich Recht. Ja, die wenigsten unserer Großeltern hatten Sex vor ihrer Eheschließung und hatten damit noch etwas Großes vor sich. Sie mussten sich ein Versprechen geben bevor sie sich dem anderen ganz hingaben. Hingabe und Verbindlichkeit, das gehört auch zusammen. Ist das etwas, das unsere Generation verlernt hat – echte Hingabe und die Kompetenz, eine Verbindlichkeit einzugehen, mit all ihren Vor- und Nachteilen?

Nachteile entzaubern die Liebe. Es ist nicht mehr alles Disney, vielleicht haben alle davor Angst wenn sie ihre Affäre zu etwas Festem werden lassen. Dass jetzt nicht mehr nur die guten Dinge miteinander geteilt werden, sondern auch die schlechten. Und dass „Keine Lust heute, sorry“ keine Option mehr ist. Aber was wäre der Umkehrschluss: Dass Affären den großen Liebesfilmen gleichen? Dass das unsere neuen großen Liebesgeschichten sind?

Um das klar zu stellen: Ich finde nicht dass jeder mit Mitte Zwanzig schon heiraten muss und happily ever after eine Familie gründen muss. Wir dürfen das Spielzeug in unserem Happy Meal noch eine ganze Weile genießen. Aber wir müssen auch lernen zu sagen: Ich mach das jetzt, ich zieh das durch. Ich hab einen tollen Menschen an meiner Seite, den ich nicht verlieren will. Und genau deshalb sind wir jetzt zusammen.

 

Love is a battlefield – not!

 

Wen wir dabei zum Partner wählen und wieso, das bleibt jedem selbst überlassen. Ein kleiner Hinweis jedoch am Rande: Jemanden heiraten, um Steuern zu sparen, passt nicht in dieses Modell. Liebe darf schon im Spiel sein. Dabei muss es nicht immer etwas super großes, tolles, übermächtiges sein, was euch zusammen hält. Eine Beziehung darf einfach sein, auch eine Nicht-Beziehung darf auf ganz einfachen Parametern gründen. Hilfreich ist es vielleicht, sich stets ins Gedächtnis zu rufen, dass Liebe nicht wehtun muss: Etwas, das über einen längeren Zeitraum funktionieren soll, muss auch die partnerschaftliche Komponente innehaben.
Gut, das ist jetzt vielleicht relativ weit weg von Charlotte und Julio, den zweien, die es irgendwie geschafft haben ganze eineinhalb Jahre aneinander vorbei zu lieben. Mit Partnerschaft hat das nichts zu tun und darauf läuft es auch aktuell nicht hinaus.

Mein Rat an Charlotte, die da so verheult und vom Abschied geplagt vor mir saß, war folgender: Geh weg, mach dein Ding und schau was draus wird. Ich habe ihr geraten sich darauf festzulegen, sich nicht festzulegen. Und wenn er sie will, dann muss er das klar äußern und auch etwas dafür tun. Das mit dem Flugticket ist schon mal ein Anfang und zeigt deutlich, dass er sie sehen will und das möglichst regelmäßig. Aber am letzten Abend der beiden noch mit der Gefühlskeule um die Ecke zu kommen und das Mädchen voll aus der Fassung zu bringen ist ja auch keine Art. Warmhalten?

Echt jetzt? Dabei waren die beiden ja schon recht lange „zusammen“. Aber zusammen ist eben nicht gleich zusammen – richtig?

 

I wish I could just make you turn around – turn around and see me cry

 

Wer zusammen ist und wirklich gemeinsam leben will, der muss auch Verletzlichkeit zulassen. Mal heulen vor dem anderen, sich angreifbar machen. Wer nicht sagt was ihn stört, der vertraut dem anderen nicht – denn er traut dem anderen nicht zu, diese Punkte zu akzeptieren und weiterhin Zuneigung mit in die Beziehung zu bringen. Der großartige TED Talk von Brene Brown zu diesem Thema ist wirklich jedem ans Herz zu legen: Wer glaubt, dass er es wert ist geliebt zu werden, der glaubt auch eher an seine Beziehungen und daran dass er geliebt wird. Gar nicht so leicht, hm?

Aber stellt euch mal vor, durch welche Proben eine Beziehung gehen muss – spätestens wenn es an die Familiengründung geht. Ob geplant oder ungeplant ist dabei mal zweitrangig, aber weder die Schwangerschaft noch die Zeit mit Säugling und Kleinkind sind eine Leichtigkeit. Wer sich schon nicht traut, sich dem Date in Jogginghose oder gar ungeschminkt zu präsentieren, wie soll das denn mit dickem Babybauch, mit Gelüsten, Stimmungsschwankungen auch dem ein oder anderen Pfund mehr auf den Rippen ablaufen? Klar, kann eine Frau während der Schwangerschaft weiter Sport treiben (lediglich über die Intensität des Trainings sind sich die Experten uneinig), aber dadurch einen flachen Bauch behalten und ganz und gar in Form zu bleiben ist kaum möglich. Damit müssen beide schon umgehen können – und sich in dieser Hinsicht verletzlich zeigen.

 

Julio und Charlotte sind weit davon entfernt ein Kind zu zeugen (das hoffe ich zumindest). Genauso wie sie meilenweit davon entfernt, sich – wie Julia Engelmann das so wunderbar auf den Punkt bringt – mal zu demaskieren und zu sehen, sie sind die gleichen.

Es wäre so einfach, wenn es nicht alle so kompliziert machen würden. Seid zusammen wenn ihr das wollt. Traut euch. Und trennt euch wenn es eben nicht mehr passt – aber eben nur dann, wenn wirklich nichts die Verbindung kitten kann. Zeigt, dass ihr verletzlich seid und liebt euch mutig und wild. Macht es euch gegenseitig leicht, lebt zusammen mit Leichtigkeit – aber legt euch mal fest. Investiert Leidenschaft, Liebe, Hingabe und geht verdammt nochmal Kompromisse ein. Das habt ihr verdient, alle miteinander, aber euer Gegenüber eben auch. Es kann eine Challenge sein, sich immer lieb zu haben, aber eben auch eine extrem erfüllende Aufgabe. Mach sie zu deiner – und spread the word! Peace and love – over and out.

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