Evan Hansen steht alleine in einem Gang. Bil: Universal

DEAR EVAN HANSEN: Der Kampf mit Depressionen

ZEITjUNG: Mittlerweile sind insbesondere junge Menschen von psychischen Erkrankungen wie Depressionen betroffen – glauben Sie, dass die sozialen Medien auch etwas damit zu tun haben könnten? 

Prof. Ulrich Hegerl: Ich glaube nicht, dass jemand ohne die Veranlagung zu einer Depression durch Cybermobbing oder Schönheitsvergleiche in eine Depression rutscht. Vielleicht wird die Stimmung gedrückt und das Selbstwertgefühl verschlechtert sich, aber das ist dann noch keine depressive Erkrankung, sondern eine normale menschliche Reaktion. Diese Unterscheidungen zwischen Befindlichkeitsstörungen und einer wirklichen depressiven Erkrankung ist wichtig. Depression ist eine schwere, oft lebensbedrohliche Erkrankung. Menschen mit dieser Diagnose haben eine um zehn Jahre reduzierte Lebenserwartung! Die Depression ist zwar nicht unabhängig von äußeren Faktoren, aber deutlich weniger davon abhängig, als man zunächst annimmt.  

ZEITjUNG: Glauben Sie, dass aufgrund der Corona-Pandemie mehr Menschen unter Depressionen leiden? 

Prof Ulrich Hegerl: Es gibt Studien, die sagen, dass die Depressionshäufigkeit zugenommen hat. Da werden jedoch meist depressive Symptome abgefragt und dass es mehr Menschen mit Sorgen, Ängsten und Stress im Lockdown gibt, das verwundert niemanden. Daraus kann man aber nicht so ohne Weiteres schließen, dass auch die Zahl der depressiv Erkrankten zugenommen hat. Das würde zu einer Überschätzung führen. Was aber sicher der Fall und Grund zu großer Sorge ist: Für Menschen, die eine Veranlagung zu Depression haben oder bereits unter Depressionen gelitten haben, waren die Maßnahmen gegen Corona eine Katastrophe. Wir haben eine repräsentative Befragung durchgeführt, bei der die Hälfte der Befragten – das sind circa zwei Millionen Menschen in Deutschland – angegeben haben, dass sich ihre Depressionen durch die Maßnahmen gegen Corona verschlechtert haben. Also gar nicht wegen der Angst vor einer Ansteckung, sondern durch die Maßnahmen. Leute haben berichtet, dass sie Rückfälle erlitten haben, dass die Depression schwerer geworden ist oder dass sie Suizidgedanken entwickelt haben. Der Grund dafür ist, dass sich die Qualität der medizinischen Versorgung verschlechtert hat: Behandlungen wurden abgesagt, Ambulanzen haben die Versorgungsangebote runtergefahren und Betroffene sind aus Angst vor Ansteckung nicht mehr zu Behandlungsterminen gegangen. Und dann gibt es zudem drei Dinge, die ganz speziell für Menschen mit Depressionen negativ sind: Die Menschen haben sich ins Bett zurückgezogen, was ungünstig ist, da lange Bettzeiten in der Regel die Depression verschlechtern. Die Menschen haben keinen Sport mehr getrieben, obwohl Sport eine unterstützende Funktion bei der Depressionsbehandlung hat. Schließlich fällt Erkrankten bei Rückzug in den eigenen Wänden die Tagesstrukturierung schwer, was zu vermehrtem Grübeln führt. Diese drei Faktoren sind sehr ungünstig für Menschen mit Depressionen und können den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Wenn hochgerechnet zwei Millionen Menschen mit der schweren Erkrankung über eine Verschlechterung durch die Maßnahmen gegen Corona berichten, so ist das eine Katastrophe, die im Stillen abläuft. Was mir von der Seite der Politik fehlt, ist die systematische und prospektive Erfassung des Ausmaßes an Leid und Tod, das durch die Maßnahmen verursacht wird, und das Thema Depression ist dabei nur eine Facette. Nur wenn man diese negativen Folgen kennt, kann man die Maßnahmen optimieren und sicher sein, dass man nicht mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Die Fokussierung auf das Infektionsgeschehen führt dazu, dass die Menschen mit der leisen Erkrankung Depressionen hinten runterfallen.