First world problems

„First world Problems“: Über das Hinterfragen von Privilegien

Der aktuelle monatliche Mindestlohn in Kolumbien beträgt umgerechnet 280 Dollar. Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs sind im Verhältnis betrachtet aber nicht genauso günstig. Beispielsweise kosten die gleichen Schuhe, die es in den USA für 20 Dollar zu kaufen gibt, in Kolumbien 60 Dollar, wegen „Exportkosten“. Wie soll sich jemand, der umgerechnet 280 Dollar im Monat verdient, also jemals diese Schuhe leisten können? Richtig, gar nicht. Auch, wenn man 600 Dollar verdient und damit wahrscheinlich zur gehobenen Mittelschicht gehört, muss man sich dreimal überlegen, ob man es sich wirklich leisten kann, ein Zehntel seines Gehalts für diese Schuhe auf den Kopf zu hauen.

Aber ja – das notwendige Geld für die Lebenshaltungskosten in Kolumbien kann man wahrscheinlich irgendwie aufbringen. Die volle Ungerechtigkeit der Situation zeigt sich aber, wenn es darum geht, Erfahrungen zu sammeln, die einen bereichern, sprich: Reisen, etwas von der Welt sehen, andere Kulturen kennenlernen und die eigene Perspektive erweitern. Nach Kolumbien reisen zu können, ist in Europa normal – nach Europa reisen zu können, ist in Kolumbien ein absoluter Luxus. Wie sollte es auch anders sein, wenn ein Flug nach Berlin 400 Dollar kostet – für den Fall, dass man Glück hat?

Wie soll jemand, der, sagen wir, umgerechnet 500 Dollar im Monat verdient, jemals genug Geld sparen, um sich einen Hin- und Rückflug sowie Aufenthalt in Berlin leisten zu können?

Während ich als europäische Studentin es mir also leisten kann, in Kolumbien mit einem Partybus durch Medellin zu fahren und einen Shot nach dem anderen zu trinken, kann sich jemand aus Kolumbien in vielen Fällen wahrscheinlich nicht einmal irgendeine Auslandsreise leisten – es sei denn, sie geht nach Venezuela oder Peru.

Ein Brasilianer, den ich hier kennengelernt habe und der gerade durch Kolumbien reist (der allerdings nebenher Vollzeit arbeitet, um über die Runden zu kommen), wollte ebenfalls mit dem besagten Partybus fahren, als wir Europäer*innen ihm davon erzählt hatten. Der Partybus hat 10 Dollar gekostet – und der Brasilianer hat lange hin- und herüberlegt, ob er es sich leisten kann, 10 Dollar für diesen Partybus auszugeben, während wir alle es für einen super Deal gehalten haben.

Überhaupt gibt die Tatsache, dass man in Lateinamerika in erster Linie Touristen aus Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und den USA trifft, sehr viel Aufschluss darüber, wie wohlhabend diese Länder eigentlich sind – vor allem, weil man so gut wie nie jemanden aus den Nachbarländern trifft. Mir ist in Kolumbien noch kein Venezolaner begegnet, ebenso niemand aus Ecuador oder Peru.

Wenn man in Europa nicht gerade an der Armutsgrenze lebt, verliert man komplett den Bezug zur Realität und das Gefühl dafür, wie reich man verglichen mit 90% der Weltbevölkerung eigentlich ist. Und genau das sollte man sich viel öfter vor Augen führen. Ich weiß, dass Menschen sich gern darüber aufregen, wenn gesagt wird, dass man nicht vergessen sollte, wie gut es einem geht. Aber sobald man einmal gesehen hat, in welchen Verhältnissen Menschen in den meisten anderen Teilen der Welt leben, glaube ich: Man darf wirklich nicht vergessen, wie gut es einem geht.

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Bildquelle: Foto von Vlada Karpovich; CC0-Lizenz