Zwei Menschen sitzen an einem Tisch und essen, einer von ihnen ist am Handy

Hassobjekt: Kalorienzählen

Wenn man allerdings den ersten Frust gegenüber den Tracking-Fanatiker*innen hinter sich lässt, bemerkt man schnell, dass man ihnen eigentlich gar keinen Vorwurf machen kann. Denn wer auf Instagram und Co. täglich vorgelebt bekommt, dass man seinen Tagesbedarf bloß nicht über- und bestenfalls dauerhaft unterschreiten sollte, der kommt kaum darum herum, früher oder später selbst in derartige Verhaltensmuster abzurutschen. Dieses Hassobjekt richtet sich also weniger an einzelne Personen, sondern ist viel mehr eine Wutrede auf Social Media. Und auf den unglaublich toxischen Trend des Kalorienzählens an sich.

Jede einzelne Mahlzeit akkurat abzuwiegen führt zu einem unglaublichen Verlust an Flexibilität und letztendlich auch Lebensfreude. Restaurantbesuche werden zu Angstsituationen, weil man innerhalb von Minuten abschätzen muss, welches Gericht auf der Karte wohl am wenigsten Kalorien hat. Der ganze Tag wird rund um das Thema Essen strukturiert: Heute Abend möchte ich eine Pizza essen, also frühstücke ich lieber etwas weniger. Den Hunger sitze ich aus, und wenn mein Kumpel fragt, ob ich auf einen Drink in die nächste Bar kommen möchte, sage ich halt ab – schließlich habe ich mein heutiges Limit schon fast überschritten. Gedanken rund um Ernährung, Gewicht und bedrohlich wirkende Zahlen dominieren den eigenen Alltag und lassen kaum mehr Raum für Spontanität, Losgelöstheit oder innere Ruhe.

Oft handelt es sich beim Kalorienzählen zwar nur um eine seltsame Phase, die spätestens nach einigen Monaten von selbst wieder überwunden wird. Nicht selten kommt es jedoch auch vor, dass sich aus dem anfangs „harmlosen“ Verhalten ernstzunehmende psychische Störungen entwickeln. Hat man einmal angefangen, ist es ziemlich schwierig, wieder aufzuhören – ich spreche aus eigener Erfahrung. Verbieten kann man die ganze Sache deshalb natürlich trotzdem nicht. Aber seine Freund*innen oder Familienmitglieder davon abzuhalten, im Falle des Falles zu Tracking-Apps zu greifen, ist ein ehrenwerter Dienst, der sich auch für die betroffenen Personen später auszahlen wird. Wer der Ansicht ist, Gewicht verlieren zu wollen, darf gerne mehr Sport machen, sich über eine ausgewogene Ernährung informieren oder auf der Arbeit die Treppe statt den Aufzug nehmen. Abnehmen und gesünder leben funktioniert auch ohne derart große Einschränkungen – meist sogar mit deutlich besserem Erfolg.

Solltet ihr aktuell also noch eine Kalorien-App auf eurem Handy installiert haben, ist genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, sie zu löschen. Gern geschehen.

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Bildquelle: Helena Lopes on Pexels, CC0-Lizenz