Fürs erste Krebs Das Jahr danach Sebastian Schramm Kolumne Erfahrung Leben Krankheot

Fürs Erste Krebs: Episode #15 – Das Jahr danach

Nur fünf Buchstaben. Sie reichen aus, um ein Leben für immer zu verändern. Was aber, wenn das Leben noch gar nicht richtig begonnen hat? Sebastian Schramm ist 27 Jahre alt – und litt an Krebs. Auf ZEITjUNG teilt er seine Gedanken, Erlebnisse und Anekdoten über die Zeit mit einer Krankheit, die in Deutschland jährlich eine Großstadt auslöscht. Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 , 10, 11 , 12, 13, 14 findet ihr hier.

Nur noch einer fehlte. Schon früher kam er immer als letztes, manchmal so spät, dass wir längst betrunken waren. Aber dieses Mal ging es nicht ums Feiern, nur um ein Abendessen. Und zu seiner Entschuldigung: Wer kommt schon pünktlich, wenn er abends nach der Arbeit einmal quer durch Berlin fahren muss, auch noch mit den Öffentlichen?

Ein kurzes Klingeln unten am Eingang und oben ließen wir die Tür für ihn einen Spalt auf. Keiner wartete, um ihn zu empfangen, quer durch die Wohnung verteilt, zogen wir uns an. Er stieß die Tür auf und machte sich bemerkbar, ein kurzes Hallo. Gut sah er aus, braune Lederjacke, dazu ein passender Schal. Marc warf einen flüchtigen Blick in den Flur und nahm Notiz von Erics Jacke. „Was, Eric, bist du heute mit Moped hier, oder was?“, fragte er mit breitem Grinsen im Gesicht. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis Eric antwortete. „Nein, ich bin auf deiner Mutter her geritten.“ Nach einer kurzen Stille, Ausdruck der Unsicherheit, ob der Konter gerade wirklich so gesagt wurde, konnten wir nur noch eines: aus vollen Herzen lachen.

 

Die eigene Reha

 

Der eigentliche Plan, von den Ärzten schon in den Minuten nach der Diagnose skizziert, hatte im Anschluss an die sechs Chemotherapien eine Reha vorgesehen. Unter Aufsicht zur Ruhe und Kräften kommen, die ersten vorsichtigen Schritte in Richtung normales Leben machen. Dabei war es nicht mehr als ein Vorschlag. Verwirrt ob der gerade gehörten Nachricht, ich hätte den Krebs besiegt, sagte der Arzt beiläufig zu mir, ich müsse selbst entscheiden: abgeschieden für einen Monat in einer Klinik, zusammen mit lauter Menschen, deren einziges Thema der Krebs sein würde, oder aber ein, zwei Wochen Gran Canaria. Das hätten andere Patienten auch schon gemacht. Ihm sei es egal. Ach, und eines wollte er mir an diesem 19. September 2016 noch mit auf den Weg geben: Er würde im Januar langsam wieder anfangen, in den Alltag zurückzukehren.

Auch wenn er mir alle Möglichkeiten aufzeigte, ich hörte aus ihnen nur eine Aufforderung zum Leben. Frei zu sein. Das Glück wieder suchen zu können und es auch finden. Ich schrieb mir meine eigene Reha.

Oft bewusst, manchmal nur durch Zufälle, führte sie mich an Orte, in denen sich einmal meine Weichen gestellt hatten. Da war das Haus meiner Eltern in Stralsund, in dem ich erwachsen wurde und in dem schlief, als ich gegen den Krebs kämpfte und mich von ihm erholte. Mit Jan und Suse, meinen besten Freunden, fuhr ich nach München, dort, wo ich mit Anfang Zwanzig vom einen auf den anderen Tag hinzogen war, um ein Jahr später zu wissen, was ich von diesem Leben eigentlich wollte.

Ich besuchte Rostock, die Stadt meines Studiums; eine Zeit, von der ich heute sage, es war bislang vielleicht die schönste. Dann war da Berlin, diese verrückte Stadt, die mich anzieht, seit ich mich erinnern kann: mit all der Geschichte, der Energie, den Möglichkeiten. Zweimal – im Oktober und im Dezember 2016 – blieb ich für eine Woche bei Marc. Wir kennen uns, seit wir zwei unseren Eltern noch bis zum Bauch reichten. Wir gingen in die Bibliothek, ich schrieb an meiner Kolumne, er an seiner Diplom-Arbeit, danach noch zum Sport und ins Restaurant, jeden Tag ein anderes. Untereinander nannten wir es Reha. Für mich war es mehr. Ich bekam eine erste Ahnung davon, wie es ist, wieder dazuzugehören. Berlin verschluckte mich: Ich war nicht länger der mit Krebs in einer Kleinstadt, über den sie redeten, wenn ich an ihnen vorbeiging. Ich war normal. Einer von vielen.

 

Greifswald: Doch noch Glück

 

Bleibt noch Greifswald. 2010, ein Jahr nach meinem Abitur, fing ich dort an, BWL zu studieren. Nach nicht einmal zwei Semestern gab ich auf. Ein paar Jahre später saß ich im Besprechungszimmer des Radiologen, der gerade die Abschlussuntersuchung durchgeführt hatte und sagte, der Tumor sei gar nicht viel kleiner geworden, eine Bestrahlung kaum zu verhindern. Nur Schlechtes in Greifswald. Zum Glück wurde seine Prognose von meinem Onkologen kassiert, nur elf Tage später. Doch keine erneute Therapie. Und im Oktober schrieb mir auf Facebook ein Mädchen aus Stralsund. Sie schickte nach der ersten Folge dieser Kolumne einen Gruß: Wir würden uns zwar nicht kennen, aber sie wünschte mir alles Gute. Später erfuhr ich, dass sie ihre Mutter an den Krebs verloren hat. Heute ist sie meine Freundin. Sie wohnt in Greifswald.

Das klingt so leicht und schwerelos. Als hätte sich nach dem Krebs alles zusammengefügt. Aber so ist es nicht.

Tatsächlich befolgte ich den Rat meines Arztes. Seit Januar 2017 arbeite ich wieder. Damals noch stundenweise, erst vier und dann sechs. In meinem Arbeitsvertrag sind zusammen mit dem Studium 60 Stunden festgelegt. Vor allem am Anfang fragten mich meine Kollegen fast jede Woche, ob ich das auch alles schaffte. Meine Antwort war immer gleich: „Ja, das geht schon.“ Heute fragen sie kaum noch. Warum sollten sie? Ich bin doch der, der wieder normal aussieht, der Haare hat. Immer ein nettes Wort auf den Lippen, immer ein Lächeln, wenn er das Büro betritt. Oft ist es eine Fassade. Denn was wäre die Alternative? Morgens den Kollegen zu erzählen, dass einen die Angst vor dem nächsten Nachsorgetermin in den Wahnsinn treibt? Ihnen zu sagen, dass manchmal schon nach dem Mittag keine Kraft mehr da ist? Dass der Gedanke lähmt, früher abberufen zu werden als die anderen? Ein Paradoxon.

 

Den Krebs unterschätzt

 

Denn fragen sie nicht, fange ich an, darüber nachzudenken, ob ich ihnen nicht egal sei. Und redeten wir nur über die Krankheit, würde man mich nicht nur auf etwas reduzieren, was ich längst überstanden habe? Eine Antwort habe ich nicht. Zurück im Alltag zu sein bedeutet, dass der Krebs einen nicht länger bestimmt. Aber gleichzeitig erinnere ich mich zurück an die Zeit, in der ich im Krankenhaus an den Infusionen hing und ich mir schwor, nie wieder negativ zu sein, das Glück sollte schon bei den kleinen Dingen beginnen: das Frühstück mit der Familie, der Kaffee mit den Freunden, der Lauf durch den Wald. Mehr Freude, weniger Sorgen. Man kann mir Naivität vorwerfen. Vielleicht aber habe ich den Krebs einfach unterschätzt. Er wird wohl nie ganz verschwinden.

Die Szene, die ich am Anfang erzählte, sie spielte in Berlin. Es war während einer der beiden Reha-Wochen, die ich bei Marc verbrachte. Zusammen mit Andreas, Christian und Eric gingen wir an dem Abend essen. Wir lachten und unterhielten uns in dem Restaurant so laut, dass sich die Gäste an den Tischen neben uns umsetzten. Leiser wurden wir auch danach nicht. Wir waren wieder die Kinder, die vor Jahren gemeinsam die Schulbank drückten und ihr Abitur machten. Der Krebs war in diesen Stunden bis auf ein oder zwei Sätze kein Thema. Und ich? Ich war glücklich.

 

Hier findest du alle „Fürs Erste Krebs“-Episoden von Sebastian Schramm.

 

Die Diagnose Krebs ist immer schlimm. Aber gerade jungen Menschen wird oft der Boden unter den Füßen weggerrissen, wenn ihnen die Krankheit in ihre Lebensplanung hineinpfuscht. Deshalb gibt es seit 2014 die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs. Ihr Ziel ist es, die Therapiemöglichkeiten und die Versorgungssituation zu verbessern und Erkrankten mit Gesprächen und Austausch zur Seite zu stehen. Die Facebook-Seite der Stiftung findet ihr hier.