Hassobjekt: die absolut undefinierte Beleidigung „dumm“

Jeder kennt sie, jeder hasst sie und doch brauchen wir sie wie die Luft zum Atmen: Nervige Klientele und unnütze Gegenstände des Alltags, über die man sich so richtig schön echauffieren kann – da geht es den ZEITjUNG-Autoren nicht anders. Deshalb lassen wir unserer Wut in der Reihe „Hassobjekt“ einfach freien Lauf und geraten überspitzt in Rage. Eins ist sicher: Nichts ist uns heilig und keiner wird verschont. Dieses Mal auf der Abschussliste: die Beleidigung „dumm“.

Ich bin nicht dumm

Manchmal lasse ich wichtige, sehr zerbrechliche Gegenstände fallen. Oder falle selbst auf ebendiese. Manchmal vergesse ich, was ich gerade mache. Manchmal höre ich mitten im Satz auf zu sprechen, weil ich nicht mehr weiß, was ich eigentlich sagen wollte.

All diese Dinge machen mich wirklich nicht einzigartig. Jeder einzelne stolpert, strauchelt und verhaspelt sich, jeder sagt mal unreflektierte Dinge. Oft weiß ich genau eine Sekunde nachdem ein Satz meine Lippen verlassen hat, dass er nicht klug war.

Vielleicht interessiert es mich einfach nicht

Und eigentlich weiß man die Dinge meistens besser. Natürlich weiß ich, dass Oslo nicht in Schweden ist, dass man in wissenschaftlichen Texten keine persönliche Meinung anbringt und wie man ein Foto an der Wand befestigt. Aber manchmal bin ich müde, schlecht gelaunt, unkonzentriert und ja – manchmal langweilt es mich, was mir mein Gegenüber erzählt und ich höre schlicht und einfach nicht zu. Dann sage ich etwas Unüberlegtes und bekomme postwendend die Retourkutsche für meine Unaufmerksamkeit – oh je, was bist du dumm.

„Dumm“ möchte allgemeingültig sein, ist es aber nicht

Diese Beleidigung, die in diesen Momenten immer kommt, macht mich so wütend. Dumm. Ach, wie dumm du bist, wie dumm von dir, mir, uns, ach, was sind wir alle dumm. Die Augen werden verdreht, dramatisch dreht man sich weg und wendet der vermeintlich dummen Person den Rücken zu. Beleidigungen tun immer weh, aber solche ganz besonders, die die man nicht rational entkräften kann. Es gibt keinen allgemeinen Maßstab dazu, ab wann jemand als dumm gilt, es gibt keinen ICD-10-Wert, der die Umstände der Diagnose „dumm“ genau festlegt. Dumm ist das Gegenteil von intelligent, und diese Bewertung ist genauso schwer zu definieren. Bei anderen Beleidigungen, hässlich, fies und so weiter, weiß wenigstens jeder, dass die Bewertung subjektiv ist. Niemand würde hingegen jemals sagen, dass die Dummheit im Auge des Betrachters liegt. Die Bezeichnung dumm erhebt sich über die Subjektivität und beansprucht allgemeine Gültigkeit. 

Wer Angst vor der Bezeichnung „dumm“ hat, nimmt sich selbst viele Chancen

Und in diesem Fall ist Nomen wirklich Omen. Wer die Bezeichnung „dumm“ fürchtet, stellt keine vermeintlich unpassenden Fragen mehr. Wer nicht dumm sein möchte, hält den Mund und riskiert, erst recht als dumm abgestempelt zu werden. Sehr kluge Menschen stellen oft die meisten Fragen. Wenn eine Nachfrage als dumm bezeichnet wird, haben sich 10 Leute im Raum gerade das Gleiche gedacht, nur hat kein anderer sich getraut, es auszusprechen. Menschen, die andere als dumm bezeichnen, sind selbst unsicher was ihren eigenen Wissenshorizont betrifft und versuchen diesen aufzuwerten, in dem sie andere niedermachen. So haben es die meisten Beleidigungen an sich, sie entspringen einer eigenen Unsicherheit.

Nenn mich bitte nicht dumm

Aber gerade die Beleidigung dumm wird häufig so lapidar daher gesagt, man nimmt sie leise hin und wehrt sich nicht. Wirklich niemand verteidigt sich, wenn er als dumm bezeichnet wird. Niemand sagt, okay, vielleicht dachte ich gerade tatsächlich, man könnte den heißen Kochtopf mit bloßen Händen anfassen. Nun habe ich den Beweis an meinen Handflächen, dass man es nicht kann. Dennoch bin ich nicht dumm, ich verbitte mir diese Äußerung. Ich habe Heidegger gelesen, ich kann einen verstopften Abfluss reinigen und ich weiß, wie man einen Fisch ausnimmt. Daher bitte, nenn mich nicht dumm, nur weil ich einen brühend heißen Topf ohne Handschuhe halten wollte.

Sagt natürlich keiner. Dann würde man ja gestehen, dass man es wirklich nicht besser wusste, dass man in diesem Moment tatsächlich unbeholfen und etwas dumm agiert hat. Das weiß man ja. Nur möchte man es nicht hören, zu allerletzt von Menschen, die einen in dieser eh schon erniedrigenden Situation gesehen haben.

Allgemeinwissen gibt es nicht

Die Mehrheit der Deutschen ist durchschnittlich intelligent. Was für eine Überraschung. Was niemand genau weiß, ist was dieser Wert wirklich misst. Der Intelligenzquotient wird über Tests bestimmt, deren Aussagekraft umstritten ist. Manch anderer bewertet die Intelligenz nach der Sprachbegabung, nach Noten, nach Leistungen. Warum überhaupt?

Häufig wird auch das Allgemeinwissen als Rechtfertigung für die Beleidigung dumm genommen. „Das weiß man eben“, wird dann gesagt, als gebe es so etwas, als würde der Mensch mit einem Wissen auf die Welt kommen, von dem niemand so genau weiß, woher er es hat. Und klar, zu essen, wenn man hungrig ist und wegzulaufen, wenn einem ein Säbelzahntiger gegenüber steht, mag angeborenes Wissen sein. Wie genau eine Demokratie aufgebaut ist und welcher Gang der Beste zum Anfahren ist, gehört aber nicht dazu. Allgemeinwissen existiert nicht, weil jeder Mensch andere Erfahrungen macht und anderes Wissen im Laufe seines Lebens ansammelt.

„Dumm“ ist so altmodisch wie Wärmedecken

Ich halte das Konzept von Intelligenztests und Allgemeinwissen für ähnlich altmodisch und unnötig wie batteriebetriebene Wärmedecken im Winter. In einer individualisierten Welt geht es nicht mehr darum, möglichst intelligent zu sein oder möglichst viel Allgemeinwissen zu besitzen, was auch immer das sein soll. Jeder hat seine Fähigkeiten und Qualitäten, diese einzusetzen ist wichtig. Den anderen zu beleidigen, nur weil man ihm in einem Gebiet überlegen sein mag, ist nicht besonders fortschrittlich. Eine Situation kann dumm sein, eine Aktion unüberlegt. Aber ein Mensch nicht. Ihr könnt mir also sagen, dieser Text sei langweilig. Schlecht recherchiert. Sprachlich banal. Vielleicht ist der Text für euch auch dumm. Aber ätsch, ich bin es deswegen noch lange nicht.

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz